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Im Tollkraut-Wahn gemordet

Lange Zeit hat der Ortswehrleiter von Naunhof-Beiersdorf nichts davon gewusst: Auf seinem Hof ist Grausames passiert. Noch immer tauchen neue Details auf.

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© André Braun

Von Heike Heisig

Leisnig/Beiersdorf. Obwohl die Nachrichtenübermittlung vor 200 Jahren ungleich langsamer gewesen ist als heute, muss sich eine Nachricht am 19. Juli 1818 wie ein Lauffeuer in Beiersdorf verbreitet haben: In der damaligen Obermühle hat sich ein schreckliches Verbrechen zugetragen. Der Müller Friedrich Gottlieb Fischer und seine Frau Johanna Rosina ermordeten in einem Anfall von Wahnsinn Christoph Friedrich Flohr, einen Häusler aus dem benachbarten Naundorf.

„Das ist auch in unserer Chronik zu finden“, sagt Stadträtin Christine Unger. Mehrfach sei zu diesem schwarzen Tag in der Geschichte des Ortes recherchiert worden. Und gerade in diesem Sommer, in dem sich der Vorfall zum 200. Mal jährt, haben sich zwei Männer noch einmal damit beschäftigt: Friedrich Becker und Olaf Beyer. Becker hat von 1986 bis 1990 als Schäfer in Beiersdorf gearbeitet. Sein Steckenpferd ist es, Historisches für die Nachwelt aufzuschreiben und zu bewahren. Olaf Beyer hat sich von Berufs wegen mit den Archiven der ehemaligen „Landes-Versorgungsanstalt für Geisteskranke“ Colditz beschäftigt und ist dabei auf diesen Mord gestoßen.

In den Friedrich Becker vorliegenden Unterlagen wird ein grausiges Bild gezeichnet. Das Müllerehepaar und die Kleinmagd Anna Christine Birke sollen den 53-jährigen Häusler und Bergmann mit einem Plättstahl – also einem Bügeleisen – niedergeschlagen, mit einem Hirschfänger (großes Messer) und einer Mistgabel malträtiert haben. Weil sich der Angegriffene noch fortzuschleppen versuchte, hätten ihn die Fischers und die Kleinmagd schließlich mit Axt und Spaten den Garaus gemacht. Eine äußerst blutige Angelegenheit, wie ein Zeuge berichtete, der nach dem Massaker auf den Mühlhof gekommen ist. Vorher hatte das Müllerehepaar schon Nachbarn als „Teufelskinder“ beschimpft und vertrieben.

Dabei kam die Teufelsbezeichnung offenbar nicht von ungefähr. Der Altleisniger Hufschmied Goldammer soll den Fischers prophezeit haben, dass sie Besuch vom Teufel bekommen. Der Handwerker experimentierte, um sich zu bereichern, mit Rauschmitteln – genau den Wurzeln vom giftigen Tollkraut. Die nachfolgende Untersuchung ergab, dass das Müllerpaar während der Tatzeit berauscht und geisteskrank gewesen sei. Daher wurde es nach der Untersuchungshaft im Amtsgefängnis der Burg Mildenstein nach Waldheim verlegt, ins Zucht-, Armen- und Irrenhaus. Von dort aus ging es 1829 nach Colditz. Nach 13  Jahren gelangten die Fischers wieder in Freiheit. „Allerdings wurden sie nicht entlassen, sondern beurlaubt“, erzählt Olaf Beyer. Das hat er der Akte entnommen.

Sowohl er als auch Friedrich Becker findet etwas Besonderes an diesem Fall. Für den Chronisten Becker ist das „Urteil sehr bemerkenswert. Das psychisch Angeschlagene damals eine zweite Chance bekamen, war keinesfalls alltäglich“, sagt er. Überliefert ist, dass das Müllerehepaar in die zwischenzeitlich treuhänderisch verwaltete Mühle zurückkehrte und sich daraufhin nichts mehr zu Schulden kommen ließ. Sowohl die Familie als auch die Kirchgemeinde sollen hinter Fischers gestanden haben.

Für Olaf Beyer ist beachtlich, dass die Eheleute Fischer die Familie ihres Opfers mit 140 Thalern Abfindung bedacht hatten. Flohr hinterließ fünf Kinder und eine Frau, die schon ein dreiviertel Jahr nach ihrem Mann starb. Soweit es ging, hat Olaf Beyer indes die Spuren der in diesen Mordfall Verwickelten verfolgt. Die meisten verlieren sich irgendwo in Sachsen, etwa in Bautzen. Die Kleinmagd musste ein halbes Jahr ins Gefängnis. Der Scharlatan Goldammer, der den Fischers das Tollkraut untergejubelt hat, überlebte eine zweijährige Zuchthausstrafe in Zwickau nicht.

Frank Andrä hat das ehemalige Obermühlen-Grundstück unmittelbar am Lutherweg im Jahr 2011 übernommen. Früher gehörte es zeitweise seinen Großeltern. „Ich bin als Kind hier ein und ausgegangen“, erzählt er. Von dem Mord, der sich dort zugetragen hat, wusste er lange Zeit nichts. „Ich habe später nach und nach davon erfahren“, sagt er. Näher damit beschäftigt hat er sich erst, als Beyer und Becker dazu recherchierten und nachfragten.