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In der Schuldenfalle

Trotz eines Lebens voller Arbeit kann Frank Reinecke nicht mal seine Krankenkassenbeiträge zahlen. Kein Einzelfall.

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© Andreas Weihs

Von Jörg Stock

Freital. Als es schneite, war das ein Glück für Frank Reinecke. Da hatte er etwas zu tun, konnte draußen vor der Haustür die Schippe schwingen. Aber jetzt ist der Schnee beiseite geschaufelt und Herr Reinecke muss aufpassen, dass ihm die Decke nicht auf den Kopf fällt von der vielen Grübelei. Seine Schulden, sagt er, kriegt er ja doch nicht los. „Höchstens dann, wenn ich mal eins achtzig tief im Dreck liege.“ Er meint damit seine Beerdigung.

Frank Reinecke, 59, wohnt in Pesterwitz. Der Freitaler Ortsteil gilt als Refugium der gut Betuchten. Herr Reinecke ist am Ende einer idyllischen Sackgasse daheim, in einem Siedlungshaus aus den 1920ern. Er lebt hier mit seiner Partnerin Karin und der schwarz-weiß gescheckten Katze Mohrli. Alles könnte so schön sein. Wenn nur die Geldnot nicht wäre. Schon seit Jahren hat das Paar keinen eigenen Euro mehr in der Tasche gehabt, lebt praktisch vom Dispo. Frank schuldet seiner Krankenkasse fast 11 000 Euro. Kurz vor Weihnachten war der Gerichtsvollzieher da und hat ihm – den Haftbefehl schon griffbereit – den Offenbarungseid abgenommen. Das Gefühl ist einfach beschissen, sagt Herr Reinecke. „Beschissen im Quadrat hoch drei.“

Frank Reinecke ist kein Einzelfall. Immer mehr Menschen im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge haben nicht genug Geld, um ihre Verbindlichkeiten zu bezahlen. Auch 2016 ist die Überschuldungsquote wieder einmal gestiegen, übersprang erstmals seit neun Jahren die Acht-Prozent-Marke. Diese Tendenz spüren auch die Schuldnerberatungsstellen. Beim Verein Bürgerhilfe Sachsen in Freital suchten voriges Jahr 620 Menschen Hilfe, dreißig mehr als 2015. Auch die Beratungsstelle der Awo in Pirna verzeichnete zuletzt einen Klientenanstieg, von 681 auf knapp 700 Personen. Etwa 1 350 Beratungsgespräche wurden an beiden Orten jeweils geführt.

Was treibt die Menschen in den finanziellen Ruin? Hemmungsloses Shopping und „fehlende Finanzkompetenz“, wie es die Fachleute ausdrücken, erklären die Lage kaum. „Die Wahrheit ist komplex“, sagt Gregor Gantert, Berater bei der Awo in Pirna. Oft werden ganz normale Kredite, aufgenommen in guten Zeiten, zum Problem, wenn die Zeiten plötzlich schlechter werden, wenn man arbeitslos wird oder krank, wenn die Firma pleitegeht oder die Ehe in die Brüche. Dann fehlt plötzlich das Einkommen, um die Raten zu leisten oder den Unterhalt für die Kinder zu bezahlen.

„Altlasten“ aus früheren Beziehungen gefährden offenbar auch immer mehr die neuen Partnerschaften. Das beobachtet jedenfalls Cornelia Landow bei der Freitaler Bürgerhilfe. „Es kommen immer mehr Paare, die Schulden haben, aber keine gemeinsamen“, sagt sie. Der Anteil überschuldeter Lebensgemeinschaften, der „Patchworkfamilien“, habe in den Beratungen 2016 im Vergleich zum Vorjahr außerordentlich stark zugenommen.

Frank Reinecke und Karin Labahn liegen im Trend. Sie sind nicht verheiratet. Auf der Insel Usedom, wo Frank aufwuchs und Karin in einem Ferienheim kellnerte, lernten sie sich einst kennen. „Eine wunderschöne Zeit“, sagt Karin. Als ihr Mann starb, taten sich die beiden zusammen, zogen 2003 in Karins verwaistes Elternhaus nach Pesterwitz. Das Häuschen sollte in der Familie bleiben. Außerdem hofften beide auf Arbeit im Speckgürtel der Landeshauptstadt. Franks letzte Firma, ein Tiefbauer, hatte Pleite gemacht.

Doch der Plan ging nicht auf. Frank Reinecke, ein gelernter Schiffbauschlosser, war plötzlich krank geworden. Bandscheibenvorfall. Die Ärzte stellten einen ernsten Wirbelsäulenschaden bei ihm fest. Er kann am Stück kaum ein, zwei Stunden stehen oder sitzen. Aussicht auf einen Job? Gleich null. Frank wäre ein Fall für Hartz IV. Er kriegt aber keins. Weil er mit Karin lebt. Die kriegt Rente und Witwenrente. Zusammen knapp 1 200 Euro. Das reicht für beide, sagt das Amt.

Aber es reicht eben nicht, sagt das Paar. Neben einem Altkredit für die Hausmodernisierung drücken Ausgaben für Energie, Wasser und Abwasser, für die Müllabfuhr, die Steuern und das Auto. Der Toyota ist „Asbach uralt“, sagt Karin Labahn, aber unverzichtbar für die Fahrten zum Einkauf und zum Arzt. Ergebnis: Bis Monatsende hat sie, die „Alleinverdienerin“, ihren Dispokredit von 3 000 Euro regelmäßig ausgereizt. Und jetzt, im Januar, wo viele Zahlungen fällig sind, ist der Dispo schon zur Monatsmitte beinahe erschöpft. „Da kannst du nur auf Holz klopfen, dass nichts kaputt geht“, sagt sie.

Die Folge: Extras, auch die geringsten, sind nicht drin. Mal was Neues zum Anziehen kaufen, und wenn es bloß ein billiges Arbeitshemd für 15 Euro ist? Keine Chance. Frank hat sich seit mindestens zehn Jahren keine neuen Schuhe mehr gekauft. Beide bräuchten neue Brillen – nicht zu stemmen. Ausgehen? Mal einen Kaffee trinken? Unmöglich. „Wir waren nicht mal auf dem Weihnachtsmarkt“, sagt Karin. Sie finanziert ihrem Mann seine Medizin. Ihr selbst geht’s gerade auch nicht gut. Sie hat Angst, ins Krankenhaus zu müssen, weil das ungeplante Ausgaben bedeuten könnte.

„So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt“, sagt Karin. Und Frank: „Es macht keinen Spaß mehr.“ Weil er der Krankenkasse so viele Beiträge schuldet, ist er praktisch nicht mehr versichert, erhält im Notfall nur eine Grundversorgung. Und das nach einem Leben voller Arbeit, in dem er „genug Staub“ geschluckt habe, wie er sagt, und nie krank gewesen sei. Er will das Thema eigentlich nicht anschneiden, tut es dann aber doch. Der Staat solle sich lieber um seine eigenen Leute kümmern, sagt er, statt das Geld Flüchtlingen zu schenken, die für das Land nie etwas getan hätten.

Wie geht es nun weiter? Das Haus verkaufen? In eine Mietwohnung ziehen? Das brächte Karin nicht übers Herz. Heiraten? Dann ginge die Witwenrente flöten. Ihren Frank zurückschicken auf seine Insel? Karin Labahn lächelt bitter. „Wir sind jetzt zwanzig Jahre zusammen. Ich werfe ihn doch nicht raus, damit ich mir neue Klamotten kaufen kann.“ Erlösung ist nicht in Sicht, nicht für Karin und Frank, und nicht für das Land. Die Wirtschaftsforscher von Creditreform, die jährlich den deutschen Schuldenatlas erstellen, glauben, dass die private Überschuldung weiter zunimmt.