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Ironman statt Ecstasy

Daniel Busch war lange drogensüchtig. Davon ist er mittlerweile los - vom Exzess noch lange nicht. Seine Flucht in den Extremsport ist auch eine Flucht vor der Vergangenheit.

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© Sina Schuldt/dpa

Von Larissa Schwedes

Villingen-Schwenningen. Der blaue Begleiter zählt mit, ohne Pause, ohne Fehler. Er zählt die 21,69 Sekunden, in denen Daniel Busch durchs Schwimmbecken krault, während die Senioren neben ihm vier Züge machen. Er misst die 237,9 Kilometer, die Busch im vorigen Monat gelaufen ist, morgens früh, abends spät und dazwischen. Er läuft, wenn Busch schläft, er selbst schläft nie. Er besteht aus Silikon, Polyamid und einer digitalen Anzeige.

Geht Buschs Plan auf, fliegt seine blaue Pulsuhr im nächsten Jahr auch mit ihm nach Hawaii. Der Ironman auf Hawaii ist das Mekka für jene Menschen, die so hart sein wollen wie Eisen. Nur die Schnellsten jeder Altersklasse dürfen an dem berühmtesten Triathlon der Welt teilnehmen.

Ironman, das sind 3,86 Kilometer Schwimmen, 180,2 Kilometer Radfahren und dann einen Marathon über 42,195 Kilometer laufen. Der zweimalige Hawaii-Sieger Jan Frodeno hat diese Langdistanz im mittelfränkischen Roth in der Weltrekordzeit von 7 Stunden, 35 Minuten und 39 Sekunden zurückgelegt. Busch brauchte 10 Stunden, 5 Minuten und 15 Sekunden.

Für den 34-Jährigen ist Hawaii nicht nur Triathlon-Mekka, sondern auch Rettungsanker. Hawaii war das Ziel, das unerreichbar erschien, als er 130 Kilogramm wog und nach seiner Entgiftung noch an den Entzugserscheinungen von Heroin litt. Sein Therapeut zeigte ihm den Film „Vom Junkie zum Ironman“ und setzte damit einen Traum in Buschs Kopf. Schon zweimal zuvor hatte er vergeblich versucht, mit den Drogen Schluss zu machen. 2006 war die Therapie für ihn nur der Ausgang aus dem Knast, in dem er wegen Dealens gesessen hatte. Die zweite Therapie drei Jahre später war eine Flucht aus einem Umfeld, das ihn immer weiter in den Sumpf zog. Zwei Therapien, ein Ergebnis: rückfällig.

Über Drogen spricht Busch wie andere von alten Bekannten. Viel gesoffen, als er 14 war, mittwochs war Bergfest. Ab 18 jeden Tag gekifft, dann bald Speed, Ecstasy, LSD. Schon mit 20 braucht Busch Heroin. 150, 200 Euro kostet seine Sucht jeden Tag, ohne Dealen unmöglich. Seine Abiturprüfungen schreibt Busch im Rausch, fürs Bestehen reicht es gerade eben. Er beginnt ein Chemie-Studium, kriegt nichts hin, nach zwei Semestern die Zwangsexmatrikulation. Seiner Wohnung droht die Zwangsräumung, weil er ein ganzes Jahr lang keine Miete zahlt. „Durchs Heroin ging wieder alles kaputt. Da habe ich endlich gemerkt: Du musst etwas machen.“ Zum ersten Mal will Busch die Entgiftung selbst.

Die Laufbahn des Naturpark-Stadions, auf der Busch heute, sechs Jahre später, seine Runden dreht, ist knietief zugeschneit. Also lieber aufs Laufband? 15.07 Uhr laut blauem Begleiter, die Zeit ist knapp, Busch will auch noch lernen. Also läuft er bei Minusgraden an der Straße entlang, immer auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Aus der geplanten lockeren Runde von acht Kilometern werden doch fast zwölf. Wenn Busch erstmal läuft, dann läuft er. Rund 80 Kilometer jede Woche. Begonnen hat alles vor knapp sechs Jahren.

Der Traum von Hawaii und einem Leben ohne Drogen führt Busch 2012 an den Bodensee. Wie in einer hügeligen Version von Astrid Lindgrens Bullerbü stehen die roten und gelben Holzhäuser der Suchtklinik „Siebenzwerge“ auf den Wiesen am Rande der Kleinstadt Salem. In seiner Therapie fängt Busch hier mit dem Laufen an. „Am Anfang war das die Hölle. Ich war dick, da ging nicht viel. Die Drogen haben ihr Übriges getan.“ Trotzdem springt der Funke über. „Wenn man clean bleiben will, muss man sich selbst packen können.“ Mittlerweile vergeht bei Busch kein Tag ohne Sport.

Wer bei „Siebenzwerge“ in Therapie ist, kennt die Wirkungen illegaler Drogen, ist aber körperlich nicht mehr abhängig. Clean sein ist die Bedingung, um aufgenommen zu werden. „Die Menschen, die zu uns kommen, können mit Freiheit nicht umgehen“, sagt Karl-Heinz Wiedemann, der sich in der Klinik um Neuzugänge kümmert. Es ist 12 Uhr, im Essensraum mit den großen Fenstern liegen Namensschilder auf den Tellern. Ein Gedicht eröffnet das Mittagessen, man fasst sich an den Händen und wünscht guten Appetit. Essen im Gehen und Trinken aus der Flasche ist verboten. Konsum soll hier bewusst geschehen, Wiedemann nennt den Ort „Lebensschule“.

„Du hattest etwas Überhebliches, als du hier ankamst. Aber du wolltest etwas verändern“, sagt Wiedemann zu Busch, der vor einigen Jahren sein Schützling war und heute sein Kollege ist. Busch macht ein duales Studium, er studiert in Villingen-Schwenningen, zwischendurch arbeitet er immer wieder in der Klinik. Nach seiner Bachelorarbeit im Sommer kann er Vollzeit bei „Siebenzwerge“ anfangen. Ob er das will, weiß Busch noch nicht. Er sagt „wir“, wenn er über die Klinik spricht.

Im Frühling beginnt Buschs nächste Etappe in Salem, zurzeit steht sein Bett noch in Villingen-Schwenningen. Daneben ein Wecker, darüber Postkarten, Fotos und Todesanzeigen von Menschen, die Buschs Alter nicht erreicht haben. Überdosis. Sechs Paar Laufschuhe stehen herum, zwei Paar durchgelaufene liegen in einem Pappkarton. „Am Bodensee habe ich noch mehr davon“, sagt Busch. Aus der Schreibtischschublade kramt er ein Foto von früher heraus, als er noch T-Shirts trug, die drei Kleidergrößen größer waren als seine heutigen. Busch hält das Foto eine Weile in den Händen und betrachtet es, als sähe er einen Fremden. Es liegt mehr zwischen ihm und dem Fotografierten als drei Kleidergrößen.

Jetzt zeichnen sich seine Rippen unter der Haut ab, von den breiten Schultern aus nach unten wird Busch immer schmaler, wie ein umgedrehter Zylinder. Vier Kilo will er noch verlieren, „Wettkampfgewicht“. Schon jetzt findet man kein Gramm Fett an seinem Körper, seine Muskeln lassen den 34-Jährigen noch jünger aussehen, als er ist. Die blau-grauen Laufschuhe trägt er von morgens bis abends, jederzeit bereit, wie seine Pulsuhr.

Dass er sich von einer Sucht in die nächste gestürzt haben könnte, streitet Busch nicht ab. „Man ist nicht einfach drogenabhängig oder Ironman. Man wächst da so rein.“ Ist auch der extreme Sport eine Art Selbstzerstörung? „Wirklich gesund ist das nicht. Aber solange ich mich gut fühle, mache ich weiter.“ Wiedemann kennt eine solche Suchtverlagerung auch von anderen Patienten. „Es hat einen Grund, warum Menschen Drogen nehmen. Wenn die Drogen wegfallen, muss etwas anderes, Positives dafür geschaffen werden“, sagt der Suchtexperte. Manche finden ihren Ersatz im Essen, andere im Sport bis zum Exzess.

Das Studium ist Buschs Etappenziel, Hawaii sein Finale. Für eine Karriere als Profisportler ist Busch zu alt. Über ein Leben nach Hawaii hat Busch noch nicht richtig nachgedacht. Nach den Drogen der Sport. Und nach dem Sport? „Was danach ist, ist egal. Dann gibt es nichts mehr.“ Ein durchschnittlicher Alltag mit 40-Stunden-Woche, Hobbys nach Feierabend und spontanen Verabredungen ist schwer vorstellbar bei einem Mann, der zu Extremen neigt.

10.15 Uhr zeigt der blaue Begleiter an, das erste Uni-Seminar des Tages hat Busch hinter sich, Zeit fürs Schwimmtraining. Danach Petersilienkartoffeln, Gemüse, Omelett mit Schnittlauch-Sahne-Soße, 2,90 Euro für Studenten. Ein guter Preis für ein solides Essen, aber Buschs Kalorienbedarf ist höher. Im Aldi nebenan hat er sich noch Apfelmus, Magerquark und Joghurt besorgt. „Vom Crack zum Quark“, sagt Busch und mischt seinen Nachtisch. Die Story gefällt ihm. Zwischendurch noch drei runde Pillen und zwei helle Kapseln, mit großen Schlucken Wasser hinunter gespült. Als er erstaunte Blicke bemerkt, winkt Busch ab. Alles pflanzlich, Eiweißpulver und Algen, reine Nahrungsergänzung.

Im April Marathon in Zürich, im Herbst Langdistanz-Triathlon in Amsterdam, im nächsten Jahr dann das Qualifikationsrennen für Hawaii in Frankfurt. Die Vorbereitungswettkämpfe fressen Tausende von Euro. „Aber das ist nichts im Gegensatz dazu, was ich für Drogen ausgegeben habe“, sagt Busch. Den bitteren 60-Cent-Kaffee schüttet er noch vor dem Automaten herunter, für den leeren Becher gibt es 10 Cent zurück. Reich wird Busch durch seinen Job bei „Siebenzwerge“ nicht. Die Startgebühr für Hawaii kostet 900 US-Dollar.

Buschs Kommilitonen beraten, ob sie nach der Mensa noch in die Bibliothek zurückgehen oder lieber Bier trinken. In der WhatsApp-Gruppe des Jahrgangs läuft die Abendplanung. „Welcher Idiot hat mich da eigentlich hinzugefügt?“, fragt Busch. Bei den Partys dabei ist Busch fast nie, eingeladen wird er trotzdem. Wo viel Alkohol ist, ist Busch heute wenig. Wochenende heißt für ihn Crosslauf durch die Wildnis, Innenwettkampf mit Dutzenden von Runden durch die Sporthalle oder Radfahren von früh bis spät.

Wenn beim Ausdauersport die Endorphine Buschs Körper durchfluten, ist das ein bisschen wie ein Rausch. „In meinem Kopf ist es dann ganz still, die Gedanken sind weg.“ Wie früher das Heroin lässt heute der Sport ihn los, wenn auch nur manchmal, für zehn Minuten. „Das Beste ist, wenn man die Zeit vergisst.“ Auf dem blauen Begleiter laufen die Zehntelsekunden unentwegt weiter, genauso wie Daniel Busch. (dpa)