Merken

Ist der Rentenzug für die DDR-Reichsbahner abgefahren?

Über 100 000 Beschäftigte kämpfen um ihre Zusatzversorgung. Ihnen läuft die Zeit davon.

Teilen
Folgen
© ullstein bild

Von Michael Rothe

Dietmar Polster ist Rentner – und Klinkenputzer. An diesem Donnerstag ist der Dresdner auf dem Weg nach Magdeburg zum Bundestagsabgeordneten Burkhard Lischka (SPD). Auch eine gehörige Portion Wut treibt den Ex-Reichsbahner seit gut 20 Jahren zu Politikern, Gewerkschaftern, Lobbyisten. Sein Ziel: Gerechtigkeit. Und als Sprecher der sächsischen Seniorengruppe in der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ist der einstige Rangierer, Fahrdienstleiter und Dispatcher im Güterbahnhof Dresden-Friedrichstadt nicht nur in eigener Sache unterwegs.

Dietmar Polster, Seniorensprecher der Eisenbahn-Gewerkschaft EVG in Sachsen.
Dietmar Polster, Seniorensprecher der Eisenbahn-Gewerkschaft EVG in Sachsen.

Wie der heute 66-Jährige hatten zu DDR-Zeiten Zehntausende Kollegen in die Altersversorgung der DDR-Staatsbahn eingezahlt – in Summe jährlich rund 400 Millionen Mark, geschätzt je 40 Millionen Euro wert. Doch bis heute wird ihnen bedeutet, dass sie keinen Anspruch hätten. Das Problem der Nichtanerkennung ihrer Zusatzversorgung aus DDR-Zeiten kennen auch Bergleute, Postler, Krankenschwestern und andere Berufsgruppen. Polster & Co wehren sich gegen die Ungleichbehandlung gegenüber den West-Kollegen und haben vor zwei Wochen eine „Task-Force“ gegründet – „auch, um uns mit anderen Benachteiligten zu verbünden“, sagt er.

Nach der Wende waren etwa 125 000 Reichsbahner auf die Deutsche Bahn AG (DB) übergeleitet worden. Davon sind nach Konzernangaben noch 31 500 bei der DB beschäftigt. Von den noch rund 18 800 Mitarbeitern, die 1990 mindestens zehn Jahre bei der Reichsbahn waren (Bedingung für eine Anwartschaft), habe aber keiner Ansprüche auf eine betriebliche Altersversorgung, heißt es vom Konzern auf SZ-Anfrage. Auch nicht von den laut Dietmar Polster bereits pensionierten rund 90 000 Kollegen. Das habe das Bundesarbeitsgericht 2012 so entschieden, weil die Altersversorgung der Reichsbahn bereits 1974 der Sozialversicherung zugeordnet worden sei.

„Das ist eine Darstellung, die nicht der Wahrheit entspricht“, schreibt der Landesverband der sächsischen EVG-Senioren in einem Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Die Altersversorgung der Reichsbahn habe nie zur Sozialversicherung der DDR gehört, für sie seien Zusatzbeiträge entrichtet worden – wie auch im Einigungsvertrag dokumentiert.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales habe die Zahlungen der Reichsbahn „bis zum Jahr 2012 geleugnet und dann bestätigt“, heißt es in dem Brief. Mit der Falschinformation, es habe keine Beitragszahlung gegeben, sei der Bundestag 1993 veranlasst worden, die Rentenansprüche der Reichsbahner ohne jenen Versorgungsanteil ins Sozialgesetzbuch (SGB VI) zu überführen. Während Reichsbahner enteignet worden seien, hätten Bundesbahner seit 1994 monatlich im Schnitt 300 bis 400 Euro bekommen – in Summe fünf Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt.

Und wo ist das eingezahlte Geld der Reichsbahner geblieben? „Inwieweit die Deutsche Reichsbahn Rückstellungen gebildet hat, ist uns nicht bekannt“, heißt es von der DB. Bundes- und Reichsbahn seien 1994 zum Bundeseisenbahnvermögen (BEV) als Behörde und Rechtsnachfolgerin zusammengeführt worden, sagt eine Sprecherin. Die Deutsche Bahn AG sei 1994 neu gegründet worden, Verbindlichkeiten beider Deutscher Bahnen, auch etwaige Anwartschaften zur Altersversorgung, seien rechtlich beim BEV verblieben.

Kritiker unterstellen der Bahn, sie baue darauf, dass sich das Problem über kurz oder lang auf natürliche Weise erledigt. Tatsächlich lichten sich die Reihen der Ex-Reichsbahner. Was hindert den Konzern, der bei Tarifverträgen auf gleiche Abschlüsse mit den verfeindeten Gewerkschaften EVG und GDL dringt, unabhängig vom Gesetz Rentengerechtigkeit herzustellen? Es gebe „bei der betrieblichen Altersvorsorge schon immer unterschiedliche Beschäftigungsgruppen“, antwortet die Bahn: etwa Beamte, pflichtversicherte Ex-Bundesbahner mit Konditionen ähnlich dem öffentlichen Dienst, Ex-Reichsbahner und neue DB-Angestellte mit Anspruch auf eine tarifvertraglich geregelte Versorgung.

Das Staatsunternehmen fühlt sich sicher und hat nach eigenen Angaben keine Rückstellungen für eventuelle Zahlungen gebildet. Es räumt aber ein, „dass es im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung für ehemalige Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn bei der Überleitung der Altersversorgung zu individuellen Nachteilen gekommen ist“. Es seien „immer wieder Anstrengungen unternommen worden“, diese Nachteile zu verringern. Mit Gewerkschaften abgeschlossene Tarifverträge berücksichtigten Vordienstzeiten aus Reichsbahnzeiten, eröffneten die Möglichkeit auf einen Betriebsrentenzuschuss und seien so eine „akzeptable Lösung“.

Das sieht der Deutsche Gewerkschaftsbund anders. Sachsens DGB-Chefin Iris Kloppich plädiert für einen staatlichen Fonds, der Ansprüche der Betroffenen abgilt. „Aber ich bin skeptisch, ob es jetzt noch gelingt, für spezielle Berufsgruppen aus DDR-Zeiten Lösungen zu finden, die gegen einen mächtigen Finanzminister aus dem Westen gefunden werden müssen“, sagt sie. Dafür müssten sich Politiker aller Parteien aus dem Osten einsetzen.

Eine Verbündete ist Sachsens Gleichstellungsministerin Petra Köpping (SPD). „Wir brauchen dringend eine politische Lösung auf Bundesebene“, sagt sie. Auch Köpping plädiert für einen „Gerechtigkeitsfonds“. Und Dietmar Polster, der nach 45 Jahren bei der Güterbahn als Rentner ganz andere Anhänger sucht, ist auch bei seinem Trip nach Sachsen-Anhalt auf offene Ohren gestoßen. SPD-Landeschef Lischka will sich ebenfalls für die Reichsbahner starkmachen. Für Polster wären Abfindungen von je 8 000 bis 12 000 Euro ein Erfolg.