Von Mathias Albert
Sind erschreckende Gewalttaten wie Amokläufe an Schulen und Gewaltbereitschaft im Alltag Ausdruck des Fehlverhaltens Einzelner, oder sind sie das Merkmal einer „verlorenen“ Generation? Ist eine rechtsradikale Gesinnung bei einem nicht zu vernachlässigenden Teil der jungen Generation ein Anzeichen dafür, dass die Jugend außer Kontrolle geraten ist, oder ist sie ein Übergangsphänomen, das sich mit zunehmender politischer Reife im Alter verflüchtigt?
Diese Fragen werden regelmäßig nach von Jugendlichen verübten grausamen Straftaten und regelmäßig nach dem Erscheinen von Studien zur Gewaltbereitschaft und politischen Einstellung von Jugendlichen gestellt. Und mit ebensolcher Regelmäßigkeit gehen darauf folgende Antworten, die über die Befindlichkeit „der“ Jugend urteilen, an der Sache vorbei.
Die politischen Einstellungen Jugendlicher, ihre Wertorientierungen, ihr Freizeitverhalten, ihr Bildungserfolg, ihr soziales Engagement, und letztendlich auch das gewalttätige und kriminelle Verhalten Einzelner: Es geht hier immer sowohl um individuelle Motivationslagen und Prägungen als auch um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die diese erst ermöglichen. Erklärungen, die auf die Gemütslagen eines so hochgradig uneinheitlichen Gebildes wie dem einer „Generation“ abheben, können daher in diesen Angelegenheiten auch immer nur eine teilweise Erklärung liefern.
Nichtsdestotrotz lässt sich auch auf einer solchen allgemeinen Ebene eine Reihe von Merkmalen beobachten, die zwar keinen Anlass zur Entwarnung hinsichtlich des Verhaltens bestimmter Gruppen geben, aber doch darauf hinweisen, dass die Jugend vielleicht nicht ganz so schlecht ist wie ihr oft weniger guter Ruf.
Wie insbesondere die letzten beiden Shell-Jugendstudien festgestellt haben, so hat heute ein großer Teil der Jugendlichen ein hohes Maß an Pragmatismus entwickelt. Nicht Resignation, sondern eine offensive, ideenreiche Umgangsweise mit der Gestaltung des eigenen Lebensweges ist das, was die Mehrzahl der jungen Menschen in Deutschland heute auszeichnet. Diese pragmatische Grundhaltung darf dabei nicht mit purem Egoismus verwechselt werden. Ganz im Gegenteil gibt eine starke Wertorientierung, geben die Verankerung in Familie und Freundeskreis den Jugendlichen den Halt, den sie in einer von gestiegenen Anforderungen gekennzeichneten Lebenswelt benötigen.
Eine pragmatische Orientierung der Mehrzahl der Jugendlichen darf dabei nicht mit einem uneingeschränkten Optimismus verwechselt werden. Die gerade in Zeiten einer Wirtschaftskrise zunehmend unsicheren Aussichten, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden, die Unwägbarkeiten des globalen Strukturwandels, aber auch das Gefühl, von der Politik nicht ernst genommen zu werden, lassen die Jugendlichen mit einigem Bedenken in die Zukunft blicken. Vor diesem Hintergrund ist es eher erstaunlich, mit wie viel Pragmatismus hier die jungen Menschen dagegenhalten.
Gerade diejenigen, die es nicht schaffen, auf mehr oder weniger düstere Zukunftsaussichten mit einer pragmatischen Einstellung zu reagieren, sind natürlich besonders anfällig für abweichendes, mitunter auch gewalttätiges Verhalten sowie für politischen Extremismus. Es bleibt dabei eine der dringendsten Aufgaben für Politik und Bildung, den Jugendlichen Formen für Beteiligung und Selbstverwirklichung bereitzustellen, die sie ansprechen. Es gibt in jeder Generation einen Restbestand derjenigen, die nicht mehr ansprechbar sind – aber dieser Restbestand kann und muss auf dem kleinstmöglichen Niveau gehalten werden.
Heißt dies nun, dass die Jugend besser ist als ihr Ruf? Letztlich führt diese Frage in die Irre. Seit der „Erfindung“ der Jugend als eigenständigem Lebensabschnitt gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war die Jugend immer schlechter als die älteren Generationen, die sie beobachteten. Dies hängt nicht zuletzt mit der allzu menschlichen Tendenz zusammen, die eigene Jugend aus der Ferne meist rosiger zu betrachten, als sie in Wahrheit war. Und seit der Erfindung der Jugend gab es immer auch Stimmen, die mahnten, dass die Jugend eben nicht so schlecht sei wie ihr Ruf.
Jede Generation zeichnet sich durch bestimmte eigene Merkmale aus. Aber keine Generation ist für sich genommen besser oder schlechter als die Gesellschaft, in der sie lebt. Deshalb erschreckt es vielleicht am meisten, dass Kinder und Jugendliche es zunehmend nur noch mit Meldungen über Schreckenstaten und extremistische Orientierungen schaffen, oben auf die Liste der öffentlichen Aufmerksamkeit zu gelangen.
Gerade eine rasch alternde Gesellschaft, die sich zu Recht auch auf die Bedürfnisse der immer größeren Zahl älterer Menschen einstellen muss, tut gut daran, Kinder und Jugendliche nicht als Ausnahmefall zu begreifen. Gerade dies würde den Nährboden dafür bereiten, dass die Einstellungen und das Verhalten Einzelner und bestimmter Gruppen erfolgreich einer ganzen Generation zugeschrieben werden könnten. Aber erst eine dauerhaft als Ausnahmefall begriffene Generation wäre auch eine für die Gesellschaft wirklich verlorene Generation.