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„Ja, ich wollte Sie töten“

Wegen versuchten Mordes steht ein Coswiger vorm Dresdner Landgericht. Er bereut nur eines: dass es nicht geklappt hat.

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© Sven Ellger

Von Jürgen Müller

Coswig/Dresden. Bei der Polizei geht am 24. Januar vormittags ein Notruf ein. Der Anrufer meldet sich mit seinem Namen, sagt dann: „Ich habe gerade versucht, meinen Nachbarn umzubringen. Es hat leider nicht geklappt.“ Als die Polizei am Tatort in Coswig eintrifft, ist auch der Anrufer da. Widerstandslos lässt er sich festnehmen. Seine Tasche für das Gefängnis hatte er schon vor der Tat gepackt mit Zahnbürste, Rasiercreme, Radio, T-Shirts.

Ihn wollte er töten. Der 77-jährige Otto Westermann, hier vor seinem Wohnhaus, weiß bis heute nicht, warum er angegriffen wurde.
Ihn wollte er töten. Der 77-jährige Otto Westermann, hier vor seinem Wohnhaus, weiß bis heute nicht, warum er angegriffen wurde. © Tino Plunert

Kurze Zeit zuvor hatte der 64-Jährige an der Wohnungstür seines 77 Jahre alten, völlig ahnungslosen Nachbarn geklingelt. Als der öffnet, tritt er ein, holt wortlos aus einem Plastebeutel einen Hammer heraus, versucht, damit auf den Rentner einzuschlagen. Er wollte ihm den Kopf einschlagen und mit einem Messer die Augen ausstechen. Doch der Angegriffene wehrt sich, kann den Täter am Arm festhalten. Beide kommen zu Fall, dann zieht der Angreifer ein Messer, sticht auf das Opfer ein. Der Rentner schreit um Hilfe, ein anderer Nachbar stürzt durch die offene Wohnungstür und sich auf den Mann. Es gelingt ihm, diesem kurzzeitig das Messer aus der Hand zu reißen. Jetzt lässt der Angreifer von seinem Opfer ab, greift den Helfer ebenfalls mit dem Messer an. Der stürzt die Treppe hinunter, zieht sich dabei einen Muskelfaserriss zu. Er kann auf die Straße rennen, Hilfe holen.

Seit Mittwoch sitzt der Angeklagte, der 64-jährige Dietmar Artur H. aus Coswig, wegen versuchten Mordes und versuchten Totschlags vorm Schwurgericht des Landgerichtes Dresden. Er gibt die Taten zu, will sich aber nicht weiter dazu äußern, vor allem nicht zu seinem Motiv. Nur eines sagt er: „Ja, ich wollte Sie töten. Ich bereue, dass es nicht geklappt hat.“ Später fügt er hinzu: „Wenn ich eine zweite Chance kriege, versuche ich es noch mal.“

Was ist das für ein Mensch? Ein kaltblütiger Mörder, ein Monster, ein Psychopath? Wohl nichts davon und doch von allem ein bisschen. H. ist ein Einzelgänger, lebt zurückgezogen, scheut Kontakt mit anderen Menschen. Aufgewachsen als Einzelkind, wohnt er bis zu seinem 37. Lebensjahr im „Hotel Mama“. Erst bei seinen Eltern, dann bei seiner Mutter, nachdem sein Vater gestorben ist. Der sei gewalttätig gewesen, habe ihn oft geschlagen, sagt er. 1989 heiratet der Mann. Es ist keine Liebesheirat, sondern eine Zweckehe. „Ich wollte nie heiraten, habe es nur getan, damit ich eine Wohnung bekomme“, sagt er. Die Ehe ist längst wieder geschieden. Nachdem er in Klipphausen Schäfer gelernt hat, arbeitet er aus gesundheitlichen Gründen keine zwei Jahre in dem Beruf, dann über 40 Jahre auf dem Bau. „Dabei habe ich zwei linke Hände, bin für den Bau gar nicht geeignet“, sagt er. Dass er dennoch so lange bleiben durfte, erklärt er so: „Ich war der ‚Liebling‘ unseres Poliers, der hat mich immer schikaniert.“ Auf dem Bau habe er „gezwungenermaßen mit Menschen zusammenarbeiten“ müssen. Freundschaften pflegt er nicht. „Auf dem Bau schließt man keine Freundschaften.“ Mit 58 Jahren wird er entlassen, bezieht Arbeitslosengeld, später „Hartz IV“. Doch das Klischee eines „Hartzis“ bedient er nicht. Er raucht nicht, trinkt nicht, hat keine Schulden, führt seinen Haushalt tipptop selbst. Inzwischen bezieht er Rente, „Zwangsrente mit 63“, wie er sagt. Und kommt wie immer mit dem Geld aus. „Wenn man es sich einteilt, geht es“, sagt er. Auf neuzeitlichen Schnickschnack wie Internet oder Handy verzichtet er völlig: „Wen soll ich denn anrufen?“ Auch ein Auto hatte er nie. Weil er seit Geburt auf einem Auge praktisch blind ist, hatte er nie einen Führerschein.

Doch was treibt einen solchen Mann zu so einer Tat? Das versucht, das Gericht seit Mittwoch herauszufinden. Klar ist, dass der menschenscheue Eigenbrötler in dem Mietshaus gemieden wurde. Man grüßt sich nicht mal. Für seine Mitmieter hat er nur Verachtung übrig. Sie seien liederlich und dreckig. „Für mich ist das Viehzeug, mit solchen Menschen gebe ich mich nicht ab“, sagt er. Die Situation eskaliert, als er vom Amtsgericht Meißen einen Strafbefehl erhält. Er soll einen Mitmieter bespuckt und geschlagen haben, dafür gut 1 000 Euro Geldstrafe zahlen. Er sieht sich unschuldig, legt Einspruch ein, doch verhandelt wird nicht. Das Gericht stellt das Verfahren im Hinblick auf die jetzigen Taten ein.

War die Anzeige der Anlass für die Tat? Suchte er sich mit dem 77-Jährigen einen Unschuldigen und zudem Gehbehinderten, dem er körperlich überlegen zu sein schien? Traute er sich nicht an den 34-jährigen Nachbarn, der ihn anzeigte? Legte er es darauf an, ins Gefängnis zu kommen? Fühlte er sich von den Mitbewohnern gemobbt, sah keinen anderen Ausweg, von dort wegzukommen? Fragen, auf die das Gericht Antworten sucht.

Seit der Tat sitzt H. im Gefängnis. Dort gefällt es ihm besser als zu Hause. „Die Drei-Mann-Zelle zum Anfang war für mich Horror. Seit ich in einer Einzelzelle bin, bin ich ganz zufrieden.“ Die Verhandlung verfolgt er ganz entspannt, fast gelangweilt. Einen Anwalt brauche er nicht. „Ich weiß doch, was ich getan habe“. Es sei ihm völlig egal, ob er fünf, zehn oder 15 Jahre kriege. „Was soll ich draußen, ich habe doch nichts.“ So spricht einer, der mit dem Leben abgeschlossen hat.

Warum der 77-jährige Otto Westermann Opfer wurde, dafür hat er selbst keine Erklärung. Er war von dem Angriff völlig überrascht. „Ich bin nicht davon ausgegangen, dass er mich töten wollte, sondern nur verletzen“, sagt er als Zeuge aus. Dennoch ist er froh, dass der Täter jetzt im Gefängnis ist. „Wenn der wieder bei uns einziehen sollte, schlafe ich lieber unter der Brücke“, sagt der alte Mann. Die Verhandlung wird am Donnerstag fortgesetzt. Ein Urteil wird für Montag erwartet.