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Jeder dritte Job in der Görlitzer Industrie wackelt

Die Unternehmensstrategien von Siemens und Bombardier gefährden den Wohlstand in Stadt und Region.

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© Nikolai Schmidt

Von Sebastian Beutler

Der Görlitzer Oberbürgermeister Siegfried Deinege war sich schnell bewusst: Wenn Siemens das Werk schließt, muss die ganze Stadt kämpfen. Denn ein solcher Schritt würde für die Wirtschaft, für das Leben in der Stadt gravierende Folgen haben. Nun hat Siemens die beabsichtigte Schließung des Werkes bestätigt. Die SZ fasst die wichtigsten Fragen zusammen.

Welche Rolle spielt Siemensals Arbeitgeber in Görlitz?

Nach Angaben des Betriebsrates sind derzeit 950 Beschäftigte am Standort Görlitz tätig, darunter 80 Auszubildende und einige Leiharbeiter. Das Werk hat nach Angaben des Unternehmensverbandes der Metall- und Elektroindustrie Sachsen rund 200 Zulieferer. Zusammen mit Bombardier bildet der Görlitzer Maschinenbau das industrielle Rückgrat der Stadt und der Region. Beide zusammen bieten derzeit 3 200 Menschen Arbeit, darunter rund 1 100 Leiharbeiter. 2 200 dieser Stellen sind nun durch die Schließungsankündigung von Siemens und die Umbaumaßnahmen bei Bombardier gefährdet. Das ist mehr als jeder dritte Arbeitsplatz im verarbeitenden Gewerbe in Görlitz, jeder zehnte sozialversicherungspflichtige Job in der Stadt. Da rund 1 000 Einwohner des Umlandes im verarbeitenden Gewerbe in der Stadt arbeiten, haben Entscheidungen bei Siemens und Bombardier auch Auswirkungen auf die gesamte Region. Die Arbeitslosenquote in der Stadt betrug im Oktober 13,6 Prozent und liegt wenig tiefer als vor einem Jahr. Es ist die höchste Quote in Sachsen.

Warum will Siemens das Görlitzer Werk überhaupt schließen?

Darauf gibt es von Siemens keine Görlitz-spezifischen Gründe. Stattdessen heißt es: Die Nachfrage nach großen Gasturbinen (über 100 MW) ist am Weltmarkt drastisch gesunken und wird sich voraussichtlich auf 110 Turbinen pro Jahr einpendeln. Die weltweite technische Fertigungskapazität aller Hersteller wird dagegen auf etwa 400 Turbinen geschätzt. Zwar habe man schon 2015 darauf mit einem Sparprogramm für die Kraftwerkssparte reagiert, doch nun, so eine Sprecherin von Siemens, habe es sich gezeigt, dass auf dem Weltmarkt dauerhaft weniger abgesetzt werden könne. Siemens verfüge damit über verschiedene unausgelastete Werke. Das Unternehmen habe dann nach rein betriebswirtschaftlichen Kennziffern die Lage analysiert. Regionale Betrachtungen, also welche Rolle das Unternehmen in der jeweiligen Region spielt, gab es nicht. Dagegen äußerte Oberbürgermeister Siegfried Deinege den Verdacht, dass Siemens sich dort von Standorten trennt, wo der vermutete Widerstand und die Kosten am geringsten sind.

Ist das Görlitzer Werk vom Einbruch auf dem Weltmarkt betroffen?

Weniger als andere. Seit 2015 ist Görlitz der Sitz des weltweiten Industriedampfturbinengeschäfts von Siemens. Hier entstehen Anlagen bis 250 MW. Sie kommen zum Einsatz in der Öl- und Gasindustrie, in der Papier- und Zellstoff-, Lebensmittel- und Metallindustrie. Auch die chemische Industrie ist Görlitzer Kunde. Ebenso sind die Turbinen gefragt für Fernwärme, Biomassekraftwerke, Müllverbrennungs-, Meerwasserentsalzungsanlagen oder in der Solarthermie. Hier könnte sich gar eine steigende Nachfrage entwickeln, denn dezentrale Energieerzeugung wird immer wichtiger. Die Kunden des Werkes selbst gehören zu den Weltmarktführern auf ihren Gebieten: BP, Shell, Saudi Aramco.

Hat Siemens sonst Schwierigkeiten mit dem Görlitzer Standort?

Ein großer Industriebetrieb mitten in der Stadt ist heute ungewöhnlich. Würde er neu gebaut, stünde er in einem Industriegebiet möglichst in Autobahnnähe. Doch Siemens kannte die Bedingungen, als es den Maschinenbau nach dem politischen Umbruch übernahm. Trotzdem gibt es immer wieder Probleme mit der Logistik. Die schweren Turbinen müssen über die A4 und Nebenstraßen meist nach Dresden gebracht werden, wo die Anlagen auf Schiffen die Elbe stromabwärts transportiert werden. Vor einigen Jahren gab es bereits Überlegungen, im Dresdner Hafen eine Endmontage einzurichten. Doch wurden sie schließlich nicht weiter verfolgt.