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Jessen in Corona-Quarantäne

Tagelang hat sich das Coronavirus unbemerkt in der Stadt in Sachsen-Anhalt ausgebreitet. 8.000 Einwohner stehen jetzt quasi unter Hausarrest.

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Ein Polizist kontrolliert ein Auto an einer Straßensperre am Ortseingang von Jessen. Seit Donnerstag, 7.00 Uhr, bis mindestens zum 10. April sind Schweinitz und Jessen von der Außenwelt abgeriegelt.
Ein Polizist kontrolliert ein Auto an einer Straßensperre am Ortseingang von Jessen. Seit Donnerstag, 7.00 Uhr, bis mindestens zum 10. April sind Schweinitz und Jessen von der Außenwelt abgeriegelt. © Jan Woitas/dpa-Zentralbild (Archiv)

Von Petra Buch, Franziska Höhnl und Fabian Albrecht

Jessen. Eine Atemschutzmaske bekommt man am Ortseingang aufgesetzt, dann darf man passieren. Jedenfalls als Journalist, als Pfleger, als Supermarkt- oder Molkerei-Mitarbeiter oder Angehöriger sonst einer Zunft, die dieser Tage als unabdingbar gilt. Jeder andere, der in die Jessener Ortsteile Schweinitz und Jessen will, oder heraus, wird von Feuerwehr und Polizei daran gehindert. Seit Donnerstagmorgen stehen die beiden Ortsteile wegen eines Ausbruchs des neuartigen Coronavirus unter Quarantäne. Nicht alle Jessener zeigten Verständnis für die drastische Maßnahme. "Wir erklären jetzt viel", formulierte Landkreis-Sprecher Ronald Gauert es diplomatisch. Nicht alle würden das verstehen.

Am Mittwochnachmittag war zunächst bekannt geworden, dass sich der Erreger Sars-CoV-2 tagelang in einem Pflegewohnheim für Senioren ausgebreitet hatte. Fünf Pfleger und elf Bewohner wurden positiv auf Corona getestet. Am gleichen Abend dann offenbarte sich ein noch größeres Ausmaß des Ausbruchs: 41 Menschen wurden in Schweinitz und Jessen positiv getestet. Landrat Jürgen Dannenberg zog daraufhin die Notbremse: Der Linken-Politiker stellte die beiden Ortsteile, in denen etwa 8.000 der rund 14.000 Jessener wohnen, unter Quarantäne.

Seit Donnerstag, 7.00 Uhr, bis mindestens zum 10. April sind Schweinitz und Jessen von der Außenwelt abgeriegelt. Die Kleinstadt nahe Brandenburg ist am Vormittag wie ausgestorben, nur vereinzelt schlängeln sich Autos durch die menschenleeren Straßen. Die Landesregierung unterstütze die Behörden vor Ort nach Kräften, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. So habe das Ministerium Experten des Robert-Koch-Instituts aus Berlin vermittelt, die am Donnerstag in der Kleinstadt eintreffen und bei den Ermittlungen zur Ausbreitung des Virus helfen sollten. Außerdem schickte Magdeburg eine extra-Fuhre Schutzkleidung und Atemmasken in die Stadt.

Blick in die leere "Lange Straße" in Jessen. 
Blick in die leere "Lange Straße" in Jessen.  © Jan Woitas/dpa

Am Donnerstagmittag trafen sich die Bürgermeister aus dem Landkreis, Landrat Dannenberg, Polizei, Feuerwehr und Ärzte zum Krisenstab und justierten die Allgemeinverordnung noch einmal nach. Blieb der Landkreis in seiner ursprünglichen Kommunikation noch recht ungenau, listete er ab Donnerstagnachmittag präzise auf, wer im Sperrgebiet noch arbeiten darf: Elf Unternehmen führt der Landkreis auf, darunter der Tiefkühlkost-Hersteller Jütro, der in Jessen mehrere Fabriken betreibt. Die Standorte könnten dank der Ausnahmegenehmigung gerade so die Prokution aufrecht erhalten, heißt es aus dem Unternehmen. Auch die Bayerische Milchindustrie, eine der größten Molkereien und Käsereien Sachsen-Anhalts, darf weiterproduzieren.

"Trotz Corona geben die Kühe ja Milch", erklärt CDU-Fraktionschef Siegfried Borgwardt, in dessen Wahlkreis Jessen liegt, die Ausnahmegenehmigung. Die Milchbauern müssten ihre Milch auch weiterhin loswerden und auch für die Lebensmittelversorgung des Landes sei Jessen nicht unwichtig.

Überhaupt werden in der Region viele Nahrungs- und Genussmittel hergestellt, doch nicht alle davon schätzt die Politik als unverzichtbar ein. Dem Winzer und Obstbauer Frank Hanke zum Beispiel ist die Verzweiflung anzuhören. Das Familienunternehmen aus Jessen mit 120-jähriger Tradition liege "mittendrin", genau zwischen den beiden unter Quarantäne stehenden Ortschaften. Ein Hubschrauber fliegt dabei über den Landstrich, wohl um die Einhaltung der Verordnung zu kontrollieren.

Wein- und Obstbauer Frank Hanke steht vor einer geschlossenen Verkaufsbude. Franke baut unter anderem Erdbeeren der Sorte "Korona" an. 
Wein- und Obstbauer Frank Hanke steht vor einer geschlossenen Verkaufsbude. Franke baut unter anderem Erdbeeren der Sorte "Korona" an.  © Jan Woitas/dpa

"Wenn wir nicht arbeiten dürfen, wäre das für uns eine Katastrophe, wir wissen dann nicht, wie es weitergehen soll", sagt er. Schon der Wegfall der Saisonarbeiter aus Osteuropa in diesem Jahr sei ein herber Einschnitt für den Betrieb. Sie seien auch nicht ohne weiteres zu ersetzen. Für die Arbeit im Wein- und Obstbau seien Sachkenntnis, Erfahrung, Motivation und auch Kondition nötig, um die harte Arbeit im Weinberg und auf dem Feld bei Wind und Wetter durchzustehen. "Die Natur gibt den Takt vor, und wenn wir mit der Arbeit aussetzen müssen, können wir das nicht so einfach nachholen", erklärt Hanke.

Der Betrieb ist mit rund 15 Hektar Weinanbaufläche ist nach eigenen Angaben das nördlichste Qualitätsweingut Deutschlands. Insgesamt 25 Hektar bewirtschaftet die Familie. Dazu gehören zusätzlich zum Weinbau Anbauflächen für Äpfel, Pflaumen, Süßkirschen und drei Hektar mit Erdbeeren. "Korona" heißt tatsächlich die Erdbeersorte, die der Direktvermarkter hier schon seit den 1980er anbaut. "Aber unsere Erdbeere schreibt sich mit K und hat ein sehr schönes Aroma", betont Hanke, der mit seinem Bruder Ingo die Geschicke des 1994 gegründeten heutigen Hofbetriebes mit Weinausschank leitet. Weinkenner schätzen die Tropfen aus der Region, die mit ihrer Weitläufigkeit zugleich für Naturliebhaber als ein Geheimtipp gilt. Wann Wein- und Naturliebhaber Jessen wieder bereisen dürfen, war am Donnerstag aber noch lange nicht absehbar. (dpa)