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Das Ende einer Tradition

Die Geschichte, die ich erzählen will, ereignete sich in den 1970-er Jahren.

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Im Nachbardorf gab es eine Familie, für die kam als Weihnachtsbaum nur eine makellose, selbst geschlagene Fichte infrage – und das seit Generationen. Der Baum wurde schon im Sommer im Wald ausgesucht, und ein, zwei Tage vor dem Fest schlich ein männliches Familienmitglied heimlich mit Axt und Säge dorthin. Dass eine „legale“ Fichte seinerzeit höchstens fünf Mark kostete und die Strafe des Försters zehnmal so hoch ausgefallen wäre, änderte nichts an dieser Tradition, bis eines Tages ...

Klaus steht in der Garage und breitet eine alte Decke auf dem umgeklappten Rücksitz seines Autos aus; Axt und Säge liegen schon im Kofferraum. Noch die schwarze Wollmütze übergezogen, dann geht es los. Das Wetter ist günstig für sein Vorhaben. Aus grauen Wolken schweben vereinzelt Schneeflocken zur Erde, die Regenpfützen von gestern sind zugefroren. Klaus steuert seinen Dacia grinsend am Dorfplatz vorbei, wo heute Weihnachtsbäume verkauft werden. Alles nur Krücken, denkt er. In zwei Tagen ist Heiligabend. Die Menschen drängeln sich um Kiefern und Fichten, drehen und wenden sie und gehen danach mehr oder weniger zufrieden mit dem Baum ihrer Wahl nach Hause. Was nicht passt, wird dort mit Bohrer und Ersatzästen passend gemacht oder unter Lametta versteckt. Klaus biegt derweil in den Waldweg ein, parkt sein Auto, nimmt Axt und Säge und schleicht sich durch das Unterholz in Richtung des auserwählten Baumes. Seine Laune ist bestens. Niemand ist zu sehen, er ist allein im Wald. Den Förster braucht er auch nicht zu fürchten, der verkauft ja auf dem Dorfplatz die Weihnachtsbäume.

Noch ein paar Schritte sind es bis zu seiner Traumfichte – da passiert es. Dünnes Eis splittert unter seinen Füßen, gleichzeitig macht sich ein fürchterlicher Geruch breit. Ein stinkender Matsch läuft in seine Schuhe, während er schnell bis zu den Knien einsinkt. Klaus versucht, die Beine herauszuziehen, und verliert dabei das Gleichgewicht. Das Eis knackt kurz, und Klaus liegt der Länge nach in der Pampe. Panisch beginnt er zu robben, und nach ein paar Metern gelingt es ihm, wieder festen Boden zu erreichen. Er rappelt sich auf und braucht noch ein paar Minuten, ehe er begreift: Unter dem Eis liegt ein kleiner Jauchesee.

Die Herbstleerung der Jauchegruben im Dorf hatte sich in diesem Jahr sehr verzögert: Die letzten waren erst Anfang Dezember an die Reihe gekommen. Bis zur Deponie war es weit, und die Zeit drängte. Die Fahrer kannten da eine Stelle im Wald, wo normalerweise kein Mensch hinkam. Also schnell das Rohr ausgelegt und die Brühe einen Abhang hinunter zwischen die niedrigen Fichten gepumpt – bis zum Frühjahr würde sie im Boden verschwunden sein. Das war natürlich verboten, aber wenn es niemand mitbekam? In diesen langsam versickernden „Bio- Müll“ der Dorfleute war Klaus unverhofft hineingeraten.

Völlig durchgeweicht und verstört tritt Klaus den Rückweg zum Auto an. Er flucht laut vor sich hin, wirft Axt und Säge wütend in den Kofferraum und öffnet die Fahrertür. Er legt die Decke, die eigentlich zur Tarnung der Weihnachtsfichte gedacht war, auf den hellen Ledersitz, streift mit den Händen notdürftig die Jauche von Jacke und Hose, wischt mit Reisig über die Schuhe, steigt ein und fährt nach Hause.

Klaus‘ Kleidung landete komplett in der Mülltonne, er badete lange mit Fichtennadelbadesalz – und roch trotzdem irgendwie komisch. Man mied seine Nähe. Das Auto war noch Wochen später nicht zu gebrauchen, der Fahrersitz musste ausgetauscht werden. Am Heiligen Abend stand im Wohnzimmer eine klägliche, schiefe Fichte mit nur wenigen Ästen. Es war die letzte, die der Förster noch im Angebot hatte, aber die erste, die in Klaus‘ Familie jemals bezahlt wurde. Und dabei ist es bis heute geblieben.

Monika Hahnspach, Jonsdorf