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Die krummen Fichten

Es war drei Tage vor Weinachten. Phillip wusste, morgen kommt seine Mutti aus dem Krankenhaus, früher als gedacht,

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und er brauchte noch schnell einen Weihnachtsbaum. Er rannte zu seinem Großvater. Sie fuhren sogleich zwei Dörfer weiter auf ein sogenanntes Tannengut. Hier konnte man sich ein Bäumchen aussuchen und absägen. Oder man entschied sich für ein kleineres Bäumchen, welches man samt der Wurzel mitnehmen konnte, um es im nächsten Frühjahr auf dem eigenen Grundstück einzupflanzen.

Doch in diesem Jahr waren kaum noch Bäume zu finden. Das Tannengut wirkte wie ausgeplündert. Dabei wünschte sich Mutti unbedingt eine Fichte, weil die immer so gut riechen. Phillip und sein Großvater waren fast allein auf dem Gut und suchten. Resigniert stellte Phillip fest: „Was sind das nur für hässliche Bäume! Die meisten sind krumm, da ist einer mit zwei Spitzen, und diesem hier fehlen an einigen Zweigen die Nadeln. Und vor allem, was passiert mit diesen Bäumen? Die braucht doch keiner.“ Adelheid, die Tannengutbesitzerin, entschuldigte sich: „Das ist mir noch nie passiert, dass fast alle Bäume weg sind. Und tatsächlich, besonders schön sind die hier nicht.“

„Na, hat Mutter Natur noch keinen Baum für euch gemalt“, ertönte eine Stimme neben dem Großvater. Phillip und er drehten sich zur Seite. Da stand ein Mann, gekrümmt, auf einen Stock gestützt, und lächelte. „Das ist so eine Sache mit der Natur. Als ich auf die Welt kam, hatte sie sicherlich auch keinen besonders guten Tag erwischt und mich mit diesem Buckel versehen.“ Großvater schaute den Mittvierziger an und nickte: „Stimmt, es geht nicht immer gerecht zu.“

„Mein Name ist Henning Fichtner“, stellte sich der Fremde vor. Dann schaute er zu Phillip: „Das ist mit diesen Bäumchen hier wie mit den Menschen. Man wünscht sich, dass alle schön, groß gewachsen und möglichst gerade sind. Das sind sie aber nicht. Trotzdem wollen alle eine Daseinsberechtigung haben.“ Phillip schaute Henning Fichtner fragend an. „Für Fußball und Bergsteigen tauge ich nicht. Dafür kann ich gut mit Computern umgehen, habe Mathematik studiert und fahre in meiner Freizeit mit ‘ner Harley“, sagte Henning. „Mit ‘ner Harley?“, fragte Phillip. „Na klar, wollt ihr sie mal sehen? Ich wohne hier gleich um die Ecke.“ Die drei marschierten zu Herrn Fichtner und bewunderten das blank geputzte Motorrad im Hausflur seines kleinen Umgebindehauses. Henning Fichtner lächelte stolz. „Wenn ich auf dem ,Edelross‘ sitze, spüre ich meinen Buckel kaum noch und glaube, dann ist er auch gar nicht mehr zu sehen – ich fühle mich schwerelos. Kommt mal mit nach oben, ich zeige euch etwas.“ Über die knarrende Treppe gelangten sie ins Wohnzimmer. Es war vollgestopft mit Büchern, alten Landkarten und Nummernschildern aus vielen Ländern der Welt. Hinten in der Ecke klemmte eine krumme Fichte mit zwei Spitzen. Sie war mit Glöckchen, Strohsternen und Lametta geschmückt, die Lichter waren schon eingeschaltet. „Seht ihr, ein anderer Baum hätte hier gar nicht reingepasst“, sagte Henning Fichtner. „Perfekt, der sieht richtig hübsch aus“, entgegnete Großvater.

„Schaut doch mal aus dem Fenster. Seit zehn Jahren hole ich nun schon diese besonderen Fichten bei Adelheid und pflanze sie immer im Frühling in meinen Garten. Die einen haben sich schon mächtig herausgemacht, andere sind krumm geblieben, manche sogar mit zwei Spitzen. Die Natur ist nicht perfekt, darum ist sie so schön.“ Nach diesem Besuch fanden Phillip und sein Großvater ganz schnell den richtigen Baum. Drei Tage später standen sie mit Phillips Mutti vor dem geschmückten Weihnachtsbaum und erzählten die Geschichte von den krummen Fichten. „Mir gefällt unser Baum, und ich habe mir schon überlegt, wo wir ihn im Frühling hinpflanzen“, sagte Phillips Mutti. Großvater prostete mit seinem Punschglas in die Luft: „Frohe Weihnachten, Henning Fichtner, bis nächstes Jahr.“

Henry Foerster, Kurort Jonsdorf