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Flut: Notfall, Notstrom, Notausgabe

Wie die SZ während der Jahrhundertflut 2002 im Exil das "Wunder von Bautzen" vollbrachte.

Von Heinrich Löbbers
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Die Flut kam durch die Drehtür: Eingang zum Haus der Presse.
Die Flut kam durch die Drehtür: Eingang zum Haus der Presse. © Thomas Lehmann

Hosen runter? Einen Moment schießt dieser Gedanke durch den Kopf an diesem Dienstagmorgen. Ich stehe vor dem Dresdner Schauspielhaus am Postplatz; dort hinten, am Ende der Ostra-Allee, steht das Haus der Presse, mein Arbeitsplatz. Und zwischen uns ein See. Soll ich durchwaten? Schwimmen? Vorbei am Zwinger, der wie ein Wasserschloss in brauner Brühe steht; vorbei an den Autos, deren Dächer so gerade noch zu sehen sind? Ob es Kollegen gibt, die es noch geschafft haben, bevor sich die Weißeritz ihr altes Bachbett mit Gewalt genommen hat und die Flutwelle durch die Drehtür kam? Dort hinein, wo eigentlich in Dresden die "Sächsische Zeitung" produziert werden müsste an diesem 13. August 2002.

Muss man sich eigentlich nass machen, um ein guter Journalist zu sein? Soll ich? Endlich klingelt das Handy. Es tagt bereits ein Krisenstab: Chefredaktion und Verlagsleitung haben sich ins Privathaus des Verlagsgeschäftsführers geflüchtet. Im Chaos dieses ersten Fluttages spricht am Telefon eine Stimme zu mir: "Wir sind abgesoffen."

Im Redaktionsgebäude steht das Wasser. Kein Strom, kein Telefon, der zentrale Rechner wurde gerade noch rechtzeitig heruntergefahren. Wenn morgen die "Sächsische Zeitung" erscheinen soll, dann bestimmt nicht aus Dresden. Die Reporter sind natürlich längst unterwegs im Verbreitungsgebiet, wo es Tausende getroffen hat, wo die Menschen um ihr Hab und Gut, manche sogar um ihr Leben kämpfen. Texte und Fotos wird es reichlich geben. Nur, wie soll daraus eine Zeitung werden?

Die SZ kann an jedem Fluttag erscheinen

"Komm, so schnell es geht, nach Bautzen", sagt der stellvertretende Chefredakteur. Dort nimmt die Regionalredaktion die Kollegen aus Dresden auf. Doch die Techniker fluchen. Zwar gibt's hier ein paar Schreibtische, Computer und Telefone. Aber wie macht man eine Zeitung ohne Netzwerk, ohne Internet, ohne Agenturen und was sonst noch normalerweise alles am zentralen Rechner in Dresden hängt? Immerhin lässt sich ein Kollege mit technisch hochgerüstetem Privathaushalt auftreiben, dem wird die Redaktionssoftware von rund neun Megabyte (Kennwort: "Glücksschweinchen") auf seinen privaten Computer gesendet. Er brennt sie auf eine CD, trägt sie in die Lokalredaktion. "Sonst hätten wir dort nicht arbeiten können", sagt Systembetreuerin Gabriele Walther.


Findige Verlagsleute haben derweil im Baumarkt Gummistiefel und Schlauchboote besorgt, um ein paar Computer zu bergen. In den Arm nehmen möchte man die Archivleiterin. Während das Wasser stieg, hat sie mit anderen stundenlang versucht, so viel wie möglich aus dem Keller zu schleppen. Und doch sind alte Zeitungsbände und unwiederbringliche Fotos aus vielen Jahrzehnten versunken in rund 300.000 Kubikmetern schlammiger Brühe. Zehn Tage später werden die Kellerräume wieder begehbar sein, 450.000 Fotos werden geborgen, verpackt und in Kühlhäusern eingefroren werden. In einer weltweit beispiellosen Rettungsaktion werden in den folgenden Monaten 100.000 Fotos restauriert werden. Die älteste Aufnahme stammt aus dem Jahre 1899.

Doch noch ist nicht mal der erste Fluttag überstanden. Ein wagemutiger Reporter samt Fotograf schafft es über eine provisorische Holzbrücke doch noch ins Haus der Presse und ritzt sich die Beine am zerfetzten Laminatboden auf. Dafür kommt er, in Unterhose durchs Wasser watend, am nächsten Tag auf die Titelseite. Denn sie erscheint: die Zeitung am Tag nach der Katastrophe. Eine 16-seitige Notausgabe ohne Lokalteile, schwarzweiß, ohne Anzeigen. Das "Wunder von Bautzen" ist vollbracht. So verheerend die Jahrhundertflut auch ist, die SZ kann an jedem Fluttag erscheinen.

Die Notausgabe wird täglich dicker

Alle packt die Schreibwut. Es gibt nur noch ein Thema, erst recht, als einige Tage später die zweite Flut kommt, das Hochwasser der Elbe Dresden überflutet und alle Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr ins Stammhaus zunichte macht. Die Notausgabe wird täglich dicker, es gibt wieder Anzeigen und einzelne Farbbilder. Die Dresdner Lokalredaktion ist mittlerweile ebenso wie der Verlag im Druckereigebäude eingerichtet, in einem provisorischen Großraumbüro. Auch in Freital, Pirna, Radebeul und Meißen muss die SZ in provisorischen Räumen produziert werden, teilweise müssen die Redaktionen mehrfach umziehen und Asyl in Rathäusern oder anderswo suchen. Mit besonderem Einsatz arbeiten auch die Zusteller, mancher Leser bekommt seine Zeitung täglich sogar mit dem Boot gebracht. Aus den zerstörten Dörfern im Erzgebirge wird berichtet, dass die SZ von Hand zu Hand geht - wenn sie denn hinkommt. Abends stopft der Letzte damit seine nassen Schuhe aus. Schon dafür lohnt sich der Aufwand.


Von Informationen allein kann freilich keiner leben, die Menschen brauchen Hilfe - sofort. Deshalb engagiert sich auch die SZ-Aktion Lichtblick, ruft Leser auf, Lesern zu helfen. Insgesamt werden 8,5 Millionen Euro gesammelt und verteilt. Wochenlang gehen SZ-Mitarbeiter zu Betroffenen und verteilen die Spenden - 4.250 Flutopfern kann so geholfen werden.

Aus Schaden sollte man klug werden

Drei Wochen lang währt das "Bautzner Exil". Dann kann endlich das Dresdner Haus der Presse wieder bezogen werden. Anfang September besucht Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die SZ, um sich über die Bewältigung der Flutfolgen zu informieren. Schließlich ist Wahlkampf. Aber was soll nun aus dem Haus der Presse werden? Schon bald beginnt die vollständige Sanierung - quasi am offenen Herzen. Während überall Handwerker wuseln, bohren und hämmern, während es staubt und lärmt, wird weiter die tägliche Zeitung produziert. Am 12. Dezember 2003 kann dann das runderneuerte Haus eingeweiht werden. Neue Technik, neue Ausstattung, neue Fassade. Im Foyer erinnert nun eine Fotowand an die Jahrhundertflut.


Aus Schaden sollte man klug werden. Seit diesen Tagen ist nicht nur das Archiv nicht mehr im Keller untergebracht, es gibt ausreichend Notstromaggregate und ausgefeilte Havariepläne. Die werden auch im März 2006 aktiviert, als die Elbe wieder bedrohlich steigt. Wieder erschienen Sonderseiten zum Hochwasser, wieder sind Flut-Reporter unterwegs von Schöna bis Strehla und wieder hilft die Aktion Lichtblick den Betroffenen. So schlimm wie 2002 kommt es zum Glück nicht. Die Kollegen in Meißen allerdings erwischt es wieder. Nachdem in der Altstadt der Strom abgestellt wird, geht nichts mehr. Also suchen die Redakteure Zuflucht in benachbarten SZ-Niederlassungen. Die Zeitung aber erscheint auch bei dieser Flut täglich.