Sachsen
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Warum die SZ nie untergegangen ist

Die Flutkatastrophe von 2002 war eine der größten Herausforderungen in der 75-jährigen Geschichte unserer Zeitung. Sie hatte auch positive Folgen.

Von Heinrich Löbbers
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Blick vom Haus der Presse am 13. August 2002, nachdem die Fluten der Weißeritz durch Dresden gerauscht sind.
Blick vom Haus der Presse am 13. August 2002, nachdem die Fluten der Weißeritz durch Dresden gerauscht sind. © Steffen Füssel

Da steht er nun im Regen auf dem Dresdner Postplatz, der SZ-Redakteur und weiß nicht weiter. Wie soll er nur zur Arbeit kommen, dort hinten am Ende der Ostra-Allee? Dort steht das Haus der Presse mitten im Wasser. Es sind nur ein paar hundert Meter, aber anstatt einer Straße ist der Weg dorthin an diesem Dienstagmorgen ein See. Hosen runter? Durchwaten? Schwimmen? Vorbei am Zwinger, der wie ein Wasserschloss in brauner Brühe steht; vorbei an den Autos, deren Dächer so gerade noch zu sehen sind? Ob es Kollegen gibt, die es noch geschafft haben, bevor sich die Weißeritz ihr altes Bachbett mit Gewalt genommen hat und die Flutwelle durch die Drehtür kam? Dort hinein, wo täglich die Sächsische Zeitung entsteht.

An diesem 13. August des Jahres 2002, so viel ist jetzt schon klar, wird hier gar nichts mehr entstehen. Wenn morgen die „Sächsische Zeitung“ erscheinen soll, dann bestimmt nicht aus Dresden. Längst tagt ein Krisenstab: Chefredaktion und Verlagsleitung haben sich ins Privathaus des Verlagsgeschäftsführers geflüchtet.

Im Redaktionsgebäude steht das Wasser. Kein Strom, kein Telefon, der zentrale Rechner konnte gerade noch rechtzeitig heruntergefahren werden. Die Reporter sind natürlich längst unterwegs im ganzen Verbreitungsgebiet, wo es Tausende getroffen hat, wo die Menschen um ihr Hab und Gut, manche sogar um ihr Leben kämpfen. Zu berichten wird es mehr als reichlich geben. Nur, wie soll daraus eine Zeitung werden?

Die Flut kam durch die Drehtür: Eingang zum Haus der Presse.
Die Flut kam durch die Drehtür: Eingang zum Haus der Presse. © Thomas Lehmann

Die Lösung heißt: Alle Ressortleiter und Innendienst-Redakteure so schnell es geht nach Bautzen! Dort nimmt die Regionalredaktion die Kollegen aus der Zentrale auf. Doch die Techniker fluchen. Zwar gibt’s da ein paar Schreibtische, Computer und Telefone. Aber wie macht man eine Zeitung ohne Netzwerk, ohne Internet, ohne Agenturen und was sonst noch normalerweise alles am zentralen Rechner hängt? Immerhin lässt sich ein Kollege mit technisch hochgerüstetem Privathaushalt auftreiben, dem wird die Redaktionssoftware (Kennwort: „Glücksschweinchen“) auf seinen privaten Computer gesendet. Er brennt sie auf CD, trägt sie in die Lokalredaktion.

Findige Verlagsleute haben derweil im Baumarkt Gummistiefel und Schlauchboote besorgt, um im Haus der Presse ein paar Computer zu bergen. Die Kollegen im Archiv haben stundenlang unzählige Zeitungsbände, historische Fotos und andere Archivalien aus dem Keller geschleppt, und doch ist vieles versunken in der schlammigen Brühe. In einer beispiellosen Rettungsaktion müssen in den folgenden Monaten 100.000 Fotos restauriert werden.

Asyl im Rathaus

Ein wagemutiger Reporter und ein Fotograf schaffen es über eine provisorische Holzbrücke ins Redaktionsgebäude. In Unterhose durchs Wasser watend, ist er am nächsten Tag auf der Titelseite zu sehen. Denn sie erscheint tatsächlich: die Zeitung am Tag 1 nach der Katastrophe. Eine 16-seitige Notausgabe ohne Lokalteile, ohne Farbfotos, ohne Anzeigen. Das „Wunder von Bautzen“ ist vollbracht. So verheerend die Jahrhundertflut auch ist, es gibt auch in diesen für Sachsen so schlimmen Zeiten keinen Tag, an dem die SZ nicht erscheint. Alle packt die Schreibwut. Es gibt nur noch ein Thema, erst recht, als einige Tage später die zweite Flut kommt, langsam aber mit Macht. Das Hochwasser der Elbe macht alle Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr ins Stammhaus zunichte. Die Notausgabe wird täglich dicker, es gibt bald wieder Anzeigen und einzelne Farbbilder.

Die Dresdner Lokalredaktion ist mittlerweile ebenso wie der Verlag in einem provisorischen Großraumbüro im Druckereigebäude nahe der Autobahn eingerichtet. Auch in Freital, Pirna, Radebeul und Meißen sind die Lokalredaktionen untergegangen, teilweise müssen die Redaktionen mehrfach umziehen, Asyl in Rathäusern oder anderswo suchen.

Mit besonderem Einsatz arbeiten auch die Zusteller, mancher Leser bekommt die Zeitung täglich per Boot gebracht. Aus den zerstörten Dörfern im Erzgebirge wird berichtet, dass die SZ von Hand zu Hand geht – wenn sie denn hinkommt. Abends stopft der Letzte damit seine nassen Schuhe aus.

Drei Wochen im "Bautzener Exil"

Von Informationen allein kann freilich keiner leben, die Menschen brauchen Hilfe – sofort. Deshalb engagiert sich auch die SZ-Aktion Lichtblick, ruft Leser auf, Lesern zu helfen. Insgesamt werden 8,5 Millionen Euro gesammelt und verteilt. Wochenlang gehen SZ-Mitarbeiter zu Betroffenen und verteilen die Spenden – 4.250 Flutopfern kann so geholfen werden.

Drei Wochen lang währt das „Bautzener Exil“ der Zentralredaktion. Dann kann endlich das Dresdner Haus der Presse wieder bezogen werden. Im September 2002 besucht Bundeskanzler Gerhard Schröder die Redaktion, um sich über die Bewältigung der Flutfolgen zu informieren. Schließlich ist Wahlkampf. Und den wird der SPD-Politiker auch wegen seiner Auftritte im Hochwassergebiet gewinnen.

Auch das Haus der Presse übersteht die Katastrophe, wird nicht etwa abgerissen, wie manche dachten, sondern vollständig saniert. Seit diesen Tagen ist nicht nur das Archiv nicht mehr im Keller untergebracht, es gibt ausreichend Notstromaggregate und ausgefeilte Havariepläne. Die werden zum Beispiel 2006 oder 2013 aktiviert, als die Elbe wieder bedrohlich steigt. Wieder erschienen Sonderseiten zum Hochwasser, wieder sind Flut-Reporter unterwegs von Schöna bis Strehla und wieder hilft die Aktion Lichtblick den Betroffenen.

Sachsen gibt zurück

Und nun, im Sommer 2021: In der Redaktion machen sich die Kollegen schon die ersten Gedanken darüber, wie man im kommenden Jahr an den 20. Jahrestag der Flutkatastrophe erinnern soll. Da kommen die Nachrichten aus dem Westen der Bundesrepublik, wo sich in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz die Ereignisse wiederholen, wie sie Sachsen erlebt hat. Es sind die gleichen Bilder und die gleichen Schicksale, wie man sie damals in der SZ lesen könnte. Es íst klar, dass nun den Betroffenen geholfen werden muss, so wie damals geholfen wurde, als man selbst betroffen war.

„Sachsen gibt zurück“ heißt deshalb das Motto der Spendenaktion, die die Stiftung Lichtblick startete, initiiert von der Sächsischen Zeitung. Und die Resonanz bei den Lesern ist phänomenal. Mehr als 900.000 Euro wurden inzwischen gespendet. Damit das Geld auch bei den Betroffenen ankommen, arbeitet die SZ in den Hochwassergebieten zusammen mit Zeitungen, denen es heute ähnlich geht wie der Sächsischen Zeitung vor 19 Jahren.