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Justin, der Rennfahrer

Der 12-Jährige hat ADHS, lebt nicht bei der Mutter, sondern in einer vollstationären Wohnform. SZ-Leser erfüllten ihm einen großen Wunsch.

Von Olaf Kittel
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Justin und sein neues Rennrad. Bald will er wieder in den Sattel steigen.
Justin und sein neues Rennrad. Bald will er wieder in den Sattel steigen. © Ronald Bonß

Das Posen mit dem Rennrad hat Justin schon ziemlich gut drauf. Helm in die Stirn, Siegerlächeln anknipsen und so tief es geht über den Lenker beugen. Mit den Siegen kann es allerdings noch eine Weile dauern. Justin kann gerade nicht mal auf den Sattel steigen. Das Knie. Vor gut zwei Jahren war ihm beim Trampolinspringen das hintere Kreuzband gerissen, im Oktober musste er deshalb noch mal zur Operation. Dabei kann er es kaum erwarten, wieder voll in die Pedale zu treten und mit seinen Trainingskumpels um die Wette zu fahren.

Der Sport ist für den zwölfjährigen Justin Bräunig sehr wichtig, wichtiger vielleicht als für viele andere. Er lebt mit drei anderen Jungs in seinem Alter und ihren Betreuern in einer sogenannten vollstationären Wohnform vom Trägerwerk soziale Dienste Sachsen. Seine Mutter Diana hatte sich während der Schwangerschaft von Justins Vater getrennt, weil er sie schlug. Die Schwangere zog zurück zu ihren Eltern, die bald darauf beide schwer erkrankten. Diana hatte sich dann um ihren Jungen zu kümmern und die Eltern zu pflegen. Dann erkrankte Justin an ADHS, einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Er raste von früh bis in die Nacht durch die Wohnung, sprang über Tische und Bänke, ließ der Mutter kaum noch Schlaf. Die Situation überforderte die kleine schmale Frau vollständig, sie wurde schwer depressiv. Die Jugendhilfe entschied gemeinsam mit ihr, den Jungen aus der Familie zu nehmen.

Ärzte empfohlen Radsport nach der Knie-OP

Justin wirkt heute ruhig und ausgeglichen, er nimmt regelmäßig seine Medikamente, die neue Umgebung tut ihm offenkundig gut. Das regelmäßige Auspowern auf dem Rad braucht er aber auch fürs seelische Gleichgewicht. Ärzte hatten ihm den Radsport nach der ersten Knie-OP empfohlen, weil viele Sportarten nicht mehr infrage kamen. Und beim Dresdner SC, wo ihn seine Betreuer zum regelmäßigen Training anmeldeten, schlug er ein. Er kam bei den Ausfahrten sehr gut mit den „Profis“ mit, die Trainer bescheinigten ihm Talent. „Ich hab’ die Ausdauer“, meint Justin, „ich fahr’ auch gern mal einen Berg, und Spurten mag ich auch gern.“ Es ist gerade besonders blöd, dass er keinen Sport machen darf und nicht mal in die Schule kann.

Deshalb ist er am Montagvormittag, als er Besuch von der Zeitung bekommt, auch allein mit seiner Betreuerin Elisabeth Ströhle in der großen, verwinkelten Wohnung im Dresdner Norden. Jeder der vier Jungs hat hier sein eigenes Zimmer. Justin zeigt seins gern, es ist groß, hell und ziemlich gut aufgeräumt. Ein bisschen stolz ist er auf seine gewaltigen Puzzle-Bilder, die eingerahmt an der Wand hängen, das größte mit 2.000 Teilen passte in keinen Bilderrahmen und füllt deshalb eine ganze Tischplatte aus.

Die vier Jungen kommen ganz gut miteinander aus, meint Justin. Meistens jedenfalls. Besonders gut versteht er sich mit seinem Freund Lenox. Nachmittags treffen sie sich alle vier oft am langen Esszimmertisch zum Spielen. Ligretto ist gerade in, Monopoly auch.

Für Daumen gibt's Medienzeit

Die Betreuer, die sich im Schichtdienst abwechseln, gestalten den Tag, wie es in einer Familie mit vier Kindern auch laufen könnte. Früh schicken sie die Jungs nach dem Frühstück zur Schule. Justin geht in die 7. Klasse der Makarenko-Schule, einem Förderzentrum, das mit Ärzten und zahlreichen sozialen Diensten Kinder fit fürs Leben machen will. Justin mag Sport, natürlich, aber auch Mathe und Info, Deutsch nicht so.

Wenn die Jungs aus der Schule kommen, gibt es frisch gekochtes Essen. Am Montag gab’s Kürbissuppe. Dann werden Hausaufgaben gemacht, anschließend ist „Medienzeit“. Wer morgens gut aus den Federn kam und pünktlich zur Schule los ist, der bekommt ein oder zwei Daumen-hoch-Symbole an die große Wandtafel gepinnt. Jeder Daumen bedeutet eine Viertelstunde Medienzeit mehr. Wird gern fürs Daddeln am Tablet genutzt. Am Montag hatten alle vier zwei Daumen geschafft. Nach dem Abendbrot ist Fernsehzeit.

Und, Justin, geht’s streng zu? Knappe Antwort: „Nicht immer.“ Wann wird’s streng? „Wenn wir die Hausaufgaben nicht gemacht haben. Sonst geht’s locker zu.“ Das bestätigt Elisabeth Ströhle, die viel jünger ist, als es ihr Vorname vermuten lässt. Sie spricht mit Justin in einer klaren, freundlichen, fast herzlichen Sprache. „Es klappt gut mit ihm“, sagt sie. „Justin ist pflegeleicht, wir haben Spaß miteinander.“ Aber klare Regeln hält sie für notwendig. Deshalb gibt es auch vier Dienste für die Jungs: Müll wegbringen, Baddienst, Küchendienst und Abendbrottisch decken.

Mutter und Schwester kommen regelmäßig zu Besuch

Am Wochenende gibt es weniger feste Regeln, auch für Computerspiele und das Fernsehen. Gern starten die Jungs mit ihrem Betreuer und dem eigenen Auto zu Ausflügen. Die Kinder entscheiden mit, ob es zum Baden, zum Wandern oder ins Kino geht. Zweimal im Jahr ist eine einwöchige Urlaubsfahrt drin, die bis nach Ungarn oder Bayern gehen kann. Wird alles übers Jugendamt finanziert.

Einmal im Monat verbringt Justin ein Wochenende bei seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Sophie, die Anfang des Jahres geboren wurde. Er spielt mit ihr, gibt auch mal die Flasche. Die Mama bringt ihm Dinge bei, die noch nicht so gut klappen. Gerade ist ordentliches Wäscheaufhängen dran. Einmal in der Woche kommen Mama und Schwester zu Besuch. Sie dürfen das auch weiterhin, die Oma und andere dürfen nicht, wegen Corona. Dafür müssen in der Wohnung keine Masken getragen werden. Es geht ja zu wie in einer Familie.

Justin freut sich auf die Adventszeit, auf die Weihnachtsfeier am 23. Dezember, da gibt’s Geschenke, Kekse und natürlich einen Weihnachtsbaum. Der steht dann dort, wo sonst der PC seinen Platz hat. Geht mal für kurze Zeit. Über die Feiertage kann er nach Hause. Seiner Mutter geht es viel besser, bald will sie wieder in einer Reinigung arbeiten. Vielleicht, sagt sie, könne Justin mit 17 oder 18 zur Familie ziehen. Nächstes Jahr versuchen die Ärzte erst mal, die Medikamente abzusetzen.

Für Justin ist wichtig, dass er wieder aufs Rad steigen kann. Ende Januar, so hofft er, ist es so weit. Auf sein eigenes, cooles Rennrad, mit dem er sich gern fotografieren lässt. Lange hat er sich vorm Training ein Rad leihen müssen, weil niemand für ein eigenes aufkommen konnte. Seine Betreuer fragten schließlich bei der Stiftung Lichtblick an, ob hier die knapp 700 Euro übernommen werden könnten, es sei wichtig für den Jungen. Lichtblick sagte zu und überwies das Geld.

Man kann sagen, dass die Leser der SZ den Rennfahrer Justin Bräunig sponsern.

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