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Corona-Sorgen im Kamenzer Kinderheim

Die Kinder und Jugendlichen im Haus Kleeblatt leiden besonders unter der Pandemie. Ihre Erzieher wenden sich mit einem dringenden Appell an die Politik.

Von Reiner Hanke
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Erzieherin Sophie Warsinke versucht den Kindern im Kamenzer Haus Kleeblatt beim Lernen unter Corona-Bedingungen zu helfen. Das ist keine leichte Aufgabe.
Erzieherin Sophie Warsinke versucht den Kindern im Kamenzer Haus Kleeblatt beim Lernen unter Corona-Bedingungen zu helfen. Das ist keine leichte Aufgabe. © Matthias Schumann

Kamenz. Jason, Natascha, Michelle und die anderen jungen Leute der Wohngruppe 1 haben gerade zwei Wochen Quarantäne hinter sich. Eine besonders schwere Zeit für sie. Die Kinder und Jugendlichen leben im „Haus Kleeblatt“ der Kinderarche Sachsen in Kamenz. Sie finden hier ein Zuhause auf Zeit, weil sie aus unterschiedlichen Gründen nicht bei ihren Eltern sein können.

Bevor sie an diesem Tag ein bisschen neue Freiheit genießen können, ist noch einmal Homeschooling angesagt. So büffeln die Kinder gemeinsam mit Erzieherin Sophie Warsinke Lernstoff über Bodenschätze in Afrika: „Das ist nicht so schwer“, meint Jason. Aber die vielen Aufgaben können einem schnell über den Kopf wachsen, sagt der 13-Jährige. „Der Lehrer erklärt das viel besser.“

Die Quarantäne hat den Jugendlichen gerade besonders viel abverlangt. Es sei schrecklich gewesen, den ganzen Tag drin zu hocken, sagt Jason. "Nur in den Hof ab und an raus, eine halbe Stunde."

Weniger Smartphone-Zeit, dafür mehr Bücherlesen

Insgesamt 22 Kinder und Jugendliche werden im Haus Kleeblatt betreut. Für sie waren die vergangenen Corona-Monate eine anstrengende Zeit, berichten die Erzieherinnen. Um den Alltag trotz Schulschließung und Kontaktverboten abwechslungsreich zu gestalten, habe man beispielsweise das Daddeln mit dem Smartphone gebremst und stattdessen Bücher bestellt. Die Chefin sagt, sie habe selbst gestaunt, was für Leseratten da im Heim sind: „Sie haben den Stoff regelrecht aufgesaugt.“

Doch so ein Nebeneffekt könne nicht über die psychische Belastung hinwegtäuschen. "So haben die Kinder sehr darunter gelitten, ihre Eltern nicht besuchen zu dürfen“, erzählt Einrichtungsleiterin Franziska Bönke. Wenn die Verhältnisse auch manchmal schwierig seien: „Der Kontakt zur Familie ist für viele sehr wichtig.“ Auch ohne Quarantäne sei der Lockdown für die jungen Leute schwer zu verkraften gewesen, was die Erziehermannschaft vor schwierige Aufgaben gestellt habe.

So festige sich der Eindruck, dass die Jugendhilfe kaum im Fokus der Politik steht: „Wir fühlen uns vergessen“, sagt Bereichsleiterin Susan Gebhardt aus der Zentrale der Kinderarche Sachsen in Radebeul. Das nötige Geld für den personellen Mehraufwand in der Pandemie habe man bei den Behörden erkämpfen müssen, gerade auch im Landkreis Bautzen. Und in der Frage der Impf-Priorisierung seien die Erzieher in der Jugendhilfe weit hinten eingeordnet worden.

Erzieher sind keine ausgebildeten Lehrer

Überhaupt habe die Politik zwischen dem ersten und dem zweiten großen Lockdown wenig gelernt, beklagen die Erzieherinnen. Deshalb hat sich die Kinderarche jetzt mit einem Brief zu Wort gemeldet: „Die Stimmen für Kinder und Jugendliche sind in den letzten 14 Monaten leider oft nicht so laut geworden wie die mancher Virologen“, heißt es darin. Deshalb habe man die dringende Bitte, darüber nachzudenken, wie "wir Kinder und Jugendliche sicher und ohne Langzeitschäden durch diese Pandemie bringen“.

Zum Beispiel sei die personelle Ausstattung in der Jugendhilfe keineswegs ausreichend für eine 24-Stunden-Betreuung inklusive Homeschooling, betonen die Erzieherinnen. Denn normalerweise seien die Kinder ja bis Mittag in der Schule. Sophie Warsinke erklärt weiter: „Wir haben in unseren Gruppen Kinder aus unterschiedlichen Schulen und Klassenstufen. Aber wir sind keine ausgebildeten Lehrer und können nur in begrenztem Maß helfen."

Nur ein Computer für acht Schüler

Auch die technische Ausstattung sei nicht optimal für einen Lockdown. So mussten sich acht Schüler einen Computer für die digitale Lernzeit teilen, und Videokonferenzen können wegen der schlechten Internetverbindung stressig werden. „Jede Wohngruppe braucht wenigstens vier Computer oder Laptops“, sagt Franziska Bönke.

Welche Auswirkungen die Corona-Zeit auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen hat, das bereitet der Leiterin vom „Haus Kleeblatt“ große Sorgen: „Unser Ziel sind selbstbewusste junge Menschen, die Verantwortung für ihr Leben übernehmen“, sagt sie. Und für die Gesellschaft. In der Corona-Pandemie sei den jungen Menschen jedoch jegliches Mitwirkungsrecht genommen worden.

Die Pandemie sei für die Kinder beängstigend, eine Dauer-Unsicherheit. „Es war und ist ein verstörendes Jahr für die jungen Leute in einer wichtigen Entwicklungsphase", schätzt Susan Gebhardt ein. „Sie wurden aus ihren vertrauten Strukturen in Schule und Freizeit gerissen und von Kontaktpersonen getrennt, die für sie wichtig sind.“

Da sind zum Beispiel die Mädchen, die ihre Reitlehrerin vermissen oder die Stunden bei der Malhexe in Kamenz. Für die Schulabgänger seien keine Betriebspraktika möglich gewesen und die Perspektiven unklar.

Durch Corona viel Traurigkeit und Resignation

„Wir erleben viel Traurigkeit und Resignation, die Kinder ziehen sich zurück, sind zu fast nichts mehr zu bewegen“, beschreibt Franziska Bönke die Situation. So steige auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Problemen. Sollte es zu einer nächsten Welle kommen, müsse es dringend andere Lösungen geben. Schul- und Kitaschließungen müssten verhindert werden.

Nach überstandener Quarantäne und weiteren Lockerungen können die Mädchen und Jungen vom Kleeblatt das Leben jetzt zumindest wieder ein bisschen mehr genießen. Die Erzieherinnen haben sich deshalb für den ersten Tag nach der Quarantäne noch etwas Besonderes einfallen lassen: einen Ausflug zu McDonalds. Bei dieser Nachricht zieht dann auch in Pandemiezeiten ein fröhliches Lächeln über die Gesichter von Jason, Natascha und Michelle.