Wenn Kinder am Schmerz der Eltern leiden

Bautzen. Die Frau legt ihre Hand auf den Buchdeckel. Das hier ist ihr Buch. Selbst geschrieben, selbst gesetzt, selbst layoutiert. Fast drei Jahre hat der Prozess gedauert. Ein großes Stück Arbeit war es. Marthe Kelling streicht gedankenverloren über das Buch. Mit der Art von Stolz, den man sich hart erarbeiten muss.
Marthe Kelling - unter diesem Pseudonym hat sie ihr Erstlingswerk veröffentlicht. Es hat Gründe, weshalb sie ihren Klarnamen nicht öffentlich lesen will. Auch in diesem Text nicht. Noch immer arbeitet sie als Familientherapeutin im Landkreis Bautzen. Noch immer kommen Menschen hilfesuchend zu ihr. "Auch wenn sich die Intensität meiner Arbeit geändert hat", sagt die 70-Jährige.
Buch erschien unter Pseudonym
"Das Buch dreht sich um das Schweigen der Elterngeneration. Eltern, die durch die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges traumatisiert waren. Die damals keine Hilfe bekamen, keine Therapie, keine Medikamente. Die überleben mussten. Deren Kinder jedoch ihr Verhalten nicht deuten konnten, darunter litten und oftmals auf sich selbst bezogen", erzählt sie.
Ihr behagte der Gedanke nicht, dass unter ihrem Namen als Therapeutin ein Roman erscheint, in dem auch manche Begebenheit ihres eigenen Lebens an die Öffentlichkeit kommen würde. Und viele Erfahrungen aus der Praxis.
Ursachen liegen oft in der eigenen Familiengeschichte
Die Protagonistin im Buch leidet unter Schlaflosigkeit, Träumen, die sie nicht einzuordnen weiß. Auch sie ist Therapeutin und holt sich Hilfe bei einer Kollegin. Marthe Kelling kennt das aus erster Hand. "Meine eigene Geschichte liegt zugrunde, doch die Handlung ist frei erfunden", sagt die Autorin. Aber sie spielt zu großen Teilen an den Orten ihrer früheren Heimat. Die Auseinandersetzung mit Erlebnissen aus ihrer Kindheit hat sie bewegt, teilweise mitgenommen. "Das Buch ist ein persönlicher Befreiungsschlag."
Transgenerative Traumatisierung - so lautet der Fachbegriff für etwas, das schwer fassbar ist. Manche Menschen sind grundlos traurig, ängstlich oder leiden an Schmerzen, für die es keine Erklärung gibt. Manche stoßen immer wieder an Grenzen. "Die Ursachen können durchaus in der eigenen Familiengeschichte liegen, wie in meinem Buch. Das erlittene Leid, das der Vater der Protagonistin im Krieg erlebte, gibt er unbewusst an seine Kinder weiter", erklärt Marthe Kelling. Sein Schmerz wird zum Schmerz seiner Kinder. Manifestiert durch seine Gewaltausbrüche.

Vererbte Wunden seien das, sagt Kelling. Der Schmerz, den viele der Klienten in ihrer realen Praxis erleben, sei nicht der ihre. Vielmehr seien es traumatische Erfahrungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Auch Unfälle oder eine frühe Trennung von den Eltern können belasten. Alles ist der Familientherapeutin schon begegnet. Missbrauch, Gewalt, Selbstzerstörung.
Allerdings dauerte es ein halbes Berufsleben, bis die gelernte Konstrukteurin und studierte Diplomingenieurin für Maschinenbau endlich im Traumberuf angekommen war. Ihr langer Weg führte von der technischen Ausbildung über einen Bürojob bis hin zur Outfit-Beraterin. Als sie von einem Institut erfuhr, welches eine Ausbildung in systemischer und Familientherapie anbot, setzte sie sich noch einmal auf die Schulbank. Da war sie 52 Jahre alt.
Kurs an der Schreibschule Hamburg belegt
Ein Buch wollte sie schon immer schreiben. "Das hatte ich mir fest vorgenommen, wusste nur lange nicht, worüber", sagt die 70-Jährige. Ihrem Sohn, der Lehrer ist, schickte sie eine Liste mit Konzepten. Der meinte nur: "Mach mal, Mama!" Doch so ganz ohne Rüstzeug wollte sie nicht ans Werk gehen. Sie buchte eine Weiterbildung an der Schreibschule Hamburg. "Ich habe einfach den erschwinglichsten Kurs genommen. In diesem ging es um Biografien. Ich wusste damals nicht, dass daraus später ein Buch erwächst", sagt sie.
Doch ihre praktischen Arbeiten, die sie während der Ausbildung abliefern musste, zeigten schnell: Da ist Potenzial für mehr. Ihre Lektorin gab ihr am Ende einen Rat: "Nehmen Sie ihre vier Kapitel, die Sie schon haben, schreiben Sie weiter und machen ein Buch daraus!"
Nachbarin wurde Lektorin und beste Kritikerin
Das tat sie. Ihr zur Seite stand Steffi Petasch, Lehrerin im Ruhestand. "Ich war auch auf der Suche nach einer Aufgabe", sagt die 77-Jährige. Die Nachbarinnen kamen ins Gespräch, fanden sich in der gemeinsamen Arbeit. Und wurden Freundinnen. Steffi Petasch lektorierte die Texte, wurde zur besten Kritikerin von Marthe Kelling. "Wir trafen uns jeden Dienstag - die gesamte Corona-Zeit über. Das hat uns durch die Krise gebracht", sagt Steffi Petasch dankbar. Spannend und befruchtend für beide sei das gewesen. Und es soll nicht enden.
Rezensionen, Mails und Nachrichten haben sie schon bekommen. Die im Buch beschriebene Generation findet sich wieder. Auch die eigene Familie arbeitet nun ihre Vergangenheit auf. "Nach 40 Jahren Funkstille bin ich so meinem jüngeren Bruder wieder näher gekommen. Und ich glaube, ich kann nicht mehr aufhören zu schreiben", sagt Marthe Kelling.
- "Fremde Kindheit" aus dem BoD-Verlag Norderstedt, ISBN 978 3 7557 4264 7. Wer E-Books favorisiert, findet es auf den entsprechenden Plattformen.