Ein Bett im Rathaus: Wie Dresdens Ex-OB Roßberg die Flut 2002 erlebte

Ein Mann läuft das Elbufer entlang. „Alles so schön hier“, sagt er. „Aber wenn ich am Wasser stehe, fallen mir so viele dramatische Dinge von damals wieder ein.“ Genau hier in Laubegast, an der Ecke zur Fährstraße, stand dieser Mann auch vor 20 Jahren. In Gummistiefeln. Und in großer Sorge. Als Oberbürgermeister von Dresden. „Es muss der Abend des 15. Augusts 2002 gewesen sein“, sagt er. Der Abend, an dem die große Katastrophe so richtig beginnt. Ingolf Roßberg, heute 61 Jahre alt, erinnert sich:
Schon am Nachmittag sind die Bewohner mit Lautsprecherwagen informiert worden, sie sollen ihre Häuser verlassen. Nicht nur das Fährhaus unweit des Laubegaster Ufers steht unter Wasser, obwohl die Elbe an diesem Tag noch gar nicht ihre ganze Flutgewalt entwickelt hat.
Roßberg geht damals gegen 22 Uhr auf einen Mann mit Schaufel in der Hand zu. „Es war der Betreiber des Fährhauses, Herr Hesse, der gerade viel Geld in das jetzt überflutete Haus investiert hatte. Wir kamen ins Gespräch, und nach einer kurzen Weile sagte er: Er kann nicht mehr. Ich wusste im ersten Augenblick nicht recht, wie ich reagieren sollte. Da nahm ich Herrn Hesse einfach in den Arm. Und so standen wir einen langen Augenblick“, erzählt Roßberg.
In diesen späten Abendstunden dringt auch in den letzten Gebieten von Laubegast der Fluss in die Keller ein.
Damals ist Ingolf Roßberg 41 Jahre alt und seit einem Jahr Oberbürgermeister. Der Verkehrsingenieur muss im Sommer 2002 plötzlich Entscheidungen treffen, wie er sie noch nie getroffen hat. „Ich konnte zu dem Zeitpunkt nicht wissen, dass diese Flut für die Stadt die größte Katastrophe nach ihrer Zerstörung 1945 wird. Ich ahnte nicht, dass mein Leben danach nicht mehr dasselbe ist. Aber dass einer die Verantwortung tragen muss, das war mir klar.“

Seit dem 12. August ist er im Dauerstress. Es ist jener Montag, als in den frühen Morgenstunden Starkregen einsetzt. „Die Flut kam ja bekanntlich nicht von vorn, nicht von der Elbe, sondern von hinten, von den Nebenflüssen aus dem Erzgebirge, und von unten, vom steigenden Grundwasser.“ Umspannwerke fallen aus, Tausende sind ohne Strom. Roßberg fährt an dem Montagabend zur Löbtauer Straße, sieht, wie die sich in einen Fluss verwandelt. „Gegen 23 Uhr war die Weißeritz völlig übergelaufen. Ich habe im Regierungspräsidium angerufen, aber keine Reaktion bekommen. Als ich den Chef des Katastrophenschutzes endlich erreichte, wollte ich von ihm einen Lagebericht. Aber der sagte nur zu mir: ,Sie sind doch vor Ort, Sie wissen viel mehr als wir, Herr Roßberg.‘“
Der frühere FDP-Politiker erinnert sich heute mit gemischten Gefühlen daran, wie er sich im 4. Stock des Rathauses ein Feldbett aufstellen ließ. Er bildet eilig einen Krisenstab, den er leitet. Drei Wochen lang rund um die Uhr Dauerstress. Ab und an legt er sich hin. Bis nach Hause schafft er es in diesen Fluttagen nicht. Die Ereignisse überschlagen sich. Am 14. August wird er gegen Mittag aus der Polizeidirektion Dresden angerufen. Der Beamte meint, die Staumauer an der Talsperre werde brechen. Eine sechs bis acht Meter hohe Flutwelle würde sich über Freital nach Dresden ergießen. „Ein unfassbarer Schreckmoment“, erinnert sich Roßberg. „Ich musste die Meldung nachprüfen, rief beim Katastrophenstab des Landes an. Keiner war zu erreichen. Auch beim Katastrophenstab des Regierungspräsidiums erreichte ich niemanden. Wie ich später erfuhr, waren die Mitarbeiter alle beim Mittagessen.“
Überlaufen der Talsperre Malter falsch interpretiert
In seiner Not habe er sich nochmals bei der Polizeidirektion vergewissert, die die Meldung aus Malter erneut bestätigt. Roßberg lässt schließlich die Medien informieren, die Menschen unterhalb von Malter sollen sich in Sicherheit bringen. Die Nachricht schlägt im wahrsten Sinne des Wortes große Wellen. Gegen 11.30 Uhr melden Rundfunkstationen: „Die Malter bricht!“ Entlang der Weißeritz löst die Nachricht Panik aus. Viele Familien dort haben bereits mit Aufräumarbeiten begonnen und flüchten nun in höher gelegene Regionen.
Es kam zum Glück anders. Roßberg: „Stunden später stellte sich heraus, dass zwei Polizisten das Überlaufen der Talsperre falsch interpretiert hatten. Ihnen ist kein Vorwurf zu machen, sie wollten nur warnen. Ich hatte keine Chance, die Meldung zu prüfen. Erst später konnte ich Entwarnung geben.“
Jeder Tag sei damals ein Auf und Ab zwischen Angst und Hoffnung gewesen, unvorhersehbare Gefahren inklusive. Am Freitag, dem 16. August, sei er von der Lingnerallee aus mit einem Bundeswehrhubschrauber gestartet, um die Lage an der Elbe zu inspizieren, erzählt Roßberg. „Der Pilot hielt nach dem Start direkt auf das Rathaus zu. Plötzlich schwenkte der Heli extrem nach links, wir flogen einen ziemlich riskanten Bogen. Der Bundeswehrpilot kannte sich in Dresden nicht aus, übersah den dunklen Rathausturm und zog in letzter Sekunde knapp an ihm vorbei.“
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Bei Kaditz, unweit des Gewerbegebietes, entdeckt Roßberg eine Auskolkung im Damm. „Ich funkte an den Katastrophenschutz: ,Passt auf, der Damm wird brechen!` Am nächsten Morgen riss der nördliche Damm an der Flutrinne. Die Elbe überflutete den Elbepark und halb Trachau.“
Genau 20 Jahre später läuft er nun am Laubegaster Ufer entlang, vorbei an der Bäckerei Siemank. Roßberg zieht ein Zigarillo aus der Schachtel, seit 30 Jahren raucht er dieselbe Marke. Er atmet den Tabak tief ein, blickt über die Elbe. Der Mann, der sich in Details von Fakten und Erinnerungen verlieren kann, wirkt auffallend entspannt. „Ich bin seit ein paar Wochen im Ruhestand“, sagt er und bläst Rauch in den Himmel.
Nie vergessen werde er die Evakuierung von Patienten aus den Kliniken. Am 13. August wird das Krankenhaus Friedrichstadt geräumt, am 14. August die Rehabilitationsklinik Dresden-Löbtau, am 15. das Klinikum Trachau. „An diesem Donnerstag entschieden wir im Krisenstab, dass auch Joseph-Stift, Diakonissen-Krankenhaus und das Herzzentrum der Uniklinik geräumt werden sollen.“ Es sei die wohl bis dahin größte Evakuierungsaktion von Krankenhäusern in der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen: 2.400 Menschen mussten ihre Betten in Kliniken der Stadt Dresden verlassen.
Streit um Evakuierungen von Patienten
Er erinnert sich an teils heftige Auseinandersetzungen mit dem damaligen Direktor der Medizinischen Klinik am Universitätsklinikum, Gerhard Ehninger. Der habe ihm und dem Krisenstab auch nachträglich noch Versagen vorgeworfen. Der Professor sagt am 26. August 2002 der Deutschen Presseagentur: Die Stadt Dresden „hat entnervt und unprofessionell reagiert. Da ist ein Krisenstab selbst zur Gefahr geworden.“ Der damalige Oberbürgermeister blickt heute gelassen darauf zurück, denn alle Evakuierungen seien geglückt. Patienten, die beispielsweise in die Charité nach Berlin gebracht wurden, seien hervorragend weiterbehandelt worden. Keiner sei in Gefahr gewesen.
Ein Grund für die Evakuierungen sei übrigens eine Berechnung des Pegel-Höchststandes der Elbe gewesen. Der damaliger Leiter des Umweltamtes, Christian Korndörfer, habe die Pegelstände sowie die Durchflussmengen des Flusses im tschechischen Mělník, in Ústí und Děčín analysiert. Zum anderen habe er Mitarbeiter seines Amtes entlang der Elbe stationiert. Alle Informationen seien im Umweltamt gesammelt und in Karten eingetragen worden.

Roßberg: „Ich bat Christian, er möge bitte errechnen, wie hoch die Elbe steigt. Er meinte, er sei innerhalb von zwölf Stunden dazu in der Lage. Ich gab ihm zwei Stunden.“ Der Physiker errechnete für den 17. August einen Höchstpegel der Elbe von 9,50 Meter, wenige Zentimeter nach oben oder unten, 80 Zentimeter höher als alle anderen offiziellen Prognosen. „Die Vorhersage von Korndörfer trat fast genau so ein, 9,40 Meter. Ich bin ihm noch heute dankbar dafür, denn seine Kompetenz hat vielen Menschen das Leben gerettet.“
Es gibt damals aber auch ganz andere Sorgen. „Plötzlich rief mich jemand an und gab einen Notruf ab: Johanna ist weg. Es handelte sich um die Fähre in der Johannstadt.“ Viele Tage später fand sich der Kahn in Gohlis am anderen Ende von Dresden. „Da auf jeder Brücke jemand abgestellt war, der alles Treibgut auf dem Fluss beobachtet, hätte es jemand sehen müssen“, meint Roßberg. Eine Frau von der Flügelwegbrücke habe auf Nachfrage dann in feinstem Sächsisch zu Protokoll gegeben: „Ach, die Johanna, die habsch komm sehn. Da habsch mir gedacht, die bassd durch.“
So kurios es heute klingt, sei es vor 20 Jahren nicht gewesen. Als Oberbürgermeister habe er eine Katastrophenmeldung nach der anderen erhalten und vor allem schnelle Lösungen finden müssen.
Fluthilfekoordinator Sehm muss ins Gefängnis
Noch ein Beispiel aus jenen Tagen: „Unter der Carolabrücke lag ein Dampfer, der durch den steigenden Pegel drohte, von unten an die Brücke anzustoßen. Also entschieden wir, sämtliche Aufbauten, große Teile des Oberdecks abzunehmen, denn Wegfahren war bei der reißenden Strömung keine Option. Am Ende lag er kaum eine Handbreit unter der Brücke, aber stieß zum Glück nicht an.“
Roßberg setzt sich ans Elbufer auf einen Stein und rechnet vor: „Die Flut kostete in Dresden vier Menschen das Leben und richtete allein im städtischen Bereich einen Schaden von rund 450 Millionen Euro an. Wir als Verwaltung saßen aber schon auf einem Schuldenberg von 700 Millionen Euro.“ Woher sollte er also so viel Geld nehmen? Unfassbar sei die Spendenbereitschaft gewesen. „80 Millionen Euro kamen zusammen. Da der Bund die Schadensbeseitigung zu 90 Prozent förderte, konnten wir als Stadt unseren Eigenanteil aus den Spenden finanzieren und sogar noch Geld an Nachbargemeinden abgeben.“ Der Wiederaufbau der Stadt war der nächste Kraftakt. Roßberg ist heute stolz darauf.

Er hält nach der Flut die Verwaltung mit der Koordination der Schadensbeseitigung für überfordert und engagiert einen Fluthilfekoordinator: Rainer Sehm. Dass der ehemalige Rennfahrer und Chef einer Spedition als Privatmann eine Insolvenz hingelegt hat, interessiert zunächst nicht. Sein Büro arbeitet erfolgreich. Doch Sehm wird später zu drei Jahren Gefängnis wegen Bankrotts und Bestechlichkeit verurteilt. Das kostet Roßberg sein Amt.
Dass er 2006 vor Gericht landete, betrachtet er bis heute als Ergebnis einer großen Intrige, von damaligen CDU-Funktionären initiiert, um ihn nach dem geglückten Wiederaufbau zu Fall zu bringen. Drei Jahre schleppt sich das Verfahren gegen den Dresdner Oberbürgermeister hin. Zwei Jahren ist er vom Dienst suspendiert. Sogar seine Kinder werden von Lehrern beschimpft. Von ursprünglich drei Vorwürfen – Korruption, Untreue, Bankrottbeihilfe – ist nach drei Verfahren nur der letztgenannte übrig. „Es gab nie eine Vorteilsnahme“, versichert Roßberg. Nur für angebliche Beihilfe zum Bankrott bekam ich sieben Monate auf Bewährung. Aber wie will ich mein Nichtwissen beweisen? Solche Dinge hätte ich doch nie in Kauf genommen.“
Roßberg kehrt nicht in die Politik zurück, arbeitet stattdessen wieder als Verkehrsingenieur. In Jerusalem hilft er bei der Inbetriebnahme der Stadtbahn, in Thailand bei der Einführung von Hochgeschwindigkeitszügen. Er arbeitet im Iran ebenso wie im anhaltinischen Zeitz.
Als 2020 in Thüringen der FDP-Mann Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsident gewählt wird und dabei Parteichef Lindner eine unrühmliche Rolle spielt, tritt Roßberg aus der FDP aus. „Das war mein endgültiger Abschied von der Politik.“ Was ihn immer begleitet, ist die Musik. So ist er Vorsitzender der Deutschen Johann Strauss Gesellschaft „Jetzt kann ich mich ganz diesem Hobby widmen.“
Eines, betont er, sei ihm ganz wichtig im Rückblick: „Bei allen Katastrophen in der Stadt, aber auch meinen persönlichen, hat meine Familie immer zusammengehalten und mich und sich gegenseitig gestützt. Dafür bin ich meiner Frau und meinen Kindern unendlich dankbar.“