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Keine Identität ohne Auschwitz

Nachfolgende Generationen suchen sich neue Formen des Gedenkens. Aber die Erinnerung an den Holocaust wird immer eine Sache aller Bürger bleiben. Ein Beitrag von Joachim Gauck.

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© action press

Von Joachim Gauck

Vor bald 20 Jahren versammelte sich der Bundestag erstmals, um mit einem eigenen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Die Erinnerung dürfe nicht enden, forderte damals Bundespräsident Roman Herzog. Und er sagte: „Ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft.“

© dpa

Viele prominente Zeitzeugen haben seitdem hier vor dem Hohen Haus geredet – Überlebende aus den Konzentrationslagern, aus den Ghettos und dem Untergrund, auch Überlebende belagerter, ausgehungerter Städte. In bewegenden Worten haben sie uns teilhaben lassen an ihrem Schicksal. Und sie haben gesprochen über das Verhältnis zwischen ihren Völkern und den Deutschen, in dem nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten nichts mehr so war wie zuvor. Erlauben Sie mir, auch heute zunächst einen Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen, einen Zeitzeugen allerdings, der den Holocaust selbst nicht überlebte. Seine Tagebücher aber sind überliefert und veröffentlicht, wenn auch erst 65 Jahre nach seinem Tod.

Ich spreche von Willy Cohn. Er stammte aus einer Kaufmannsfamilie und unterrichtete an einem Breslauer Gymnasium. Er war ein orthodoxer Jude, tief verbunden mit deutscher Kultur und Geschichte, im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz. Unter dem NS-Regime verlor Cohn seine Arbeit, er verlor Freunde und Verwandte durch Selbstmord und Ausreise. Er ahnte das Ende, als ihn Nachrichten von der Errichtung der Ghettos im besetzten Polen erreichten und von Massenerschießungen in Lemberg. Doch obwohl er all dies wusste, bewahrte sich Cohn eine nahezu unerschütterliche Treue zu dem Land, das ihm das seine schien. „Ich liebe Deutschland so“, schrieb er, „dass diese Liebe auch durch alle Unannehmlichkeiten nicht erschüttert werden kann. […] Man muss loyal genug sein, um sich auch einer Regierung zu fügen, die aus einem ganz anderen Lager kommt.“

Cohns Loyalität, deren Unbedingtheit uns fast unbegreiflich erscheint, weil wir den weiteren Verlauf der Geschichte kennen, Cohns Loyalität wurde auf das Bitterste enttäuscht. Am 25. November 1941 verluden willige Helfer seine Familie in einen der ersten Züge, die Juden aus Breslau in den Tod deportierten. Tamara, die jüngste Tochter von Willy Cohn, war gerade drei Jahre alt. Vier Tage später hielt der SS-Standartenführer Karl Jäger fest, dass 2 000 Juden im litauischen Kaunas mit Maschinengewehren erschossen worden seien. (...)

Der Jude der Antisemiten war kein Wesen aus Fleisch und Blut. Er galt als das Böse schlechthin und diente als Projektionsfläche für jede Art von Ängsten, Stereotypen und Feindbildern, sogar solchen, die einander ausschließen. Allerdings ist niemand in seinem Judenhass so weit gegangen wie die Nationalsozialisten. (...)

Was uns aber am meisten entsetzt: Nie zuvor hat ein Staat ganze Menschengruppen so systematisch stigmatisiert, separiert und vernichtet: in so großer Zahl, mit eigens geschaffenen Todeslagern und einer präzise durchorganisierten, unerbittlichen und hocheffizient betriebenen Tötungsmaschinerie – so wie in Auschwitz, das zum Symbol für den Holocaust wurde. Es waren die Truppen der Alliierten, die diesem Morden bei ihrem Vormarsch ein Ende bereiteten. Die Vernichtungslager im Osten wurden von den Sowjetsoldaten befreit. Vor ihnen, die allein bei der Befreiung von Auschwitz 231 Kameraden verloren, verneigen wir uns auch heute in Respekt und Dankbarkeit. (...)

Gleich nach dem Krieg stand der Wiederaufbau im Vordergrund. In den Jahren des Wirtschaftswunders schauten im Westen zu viele Menschen nur nach vorn, und zu wenige auch zurück. NS-Verbrechen verfolgte die Justiz nur schleppend und in Einzelfällen. Mochten einzelne Intellektuelle und Schriftsteller die NS-Zeit auch thematisieren, mochten einzelne Filme, Romane und Tagebücher auch auf jüdische Schicksale verweisen – etwa auf das von Anne Frank –, so blieb die Mehrheit davon doch unberührt. Sie schottete sich ab und schützte sich vor Schuld- und Schamgefühlen, indem sie die Erinnerung verweigerte.

Im Rückblick ist es beschämend, dass aus den Opfern von einst nun Bittsteller wurden – beschämend, wenn bei Entschädigungen das Leiden von Opfern der Deutschen weniger wert war als das Leiden deutscher Opfer. Die Bevölkerung der jungen Bundesrepublik kannte wenig Mitgefühl mit den Opfern nationalsozialistischer Gewalt. Das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel war in der Öffentlichkeit keineswegs populär.

Das Schweigen wurde erst allmählich durchbrochen, als Ende der 1950er-Jahre größere Prozesse gegen nationalsozialistische Täter begannen – der Ulmer Einsatzgruppenprozess, der Prozess gegen Adolf Eichmann, die Auschwitz-Prozesse. Sie machten das Ausmaß der Verbrechen sichtbar. Auf Betreiben des unerschrockenen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer berichteten Hunderte von Zeugen über Gräueltaten, die belegten, dass es ein ganzes System der Vernichtung gab, ein System, das viele nicht für vorstellbar gehalten hatten. Zwar war das Erschrecken in der Öffentlichkeit groß. Aber eine wirklich umfassende Betroffenheit stellte sich noch nicht ein. Die meisten Deutschen sprachen sich selbst frei, indem sie Schuld und Verantwortung einer kleinen Zahl von Fanatikern und Sadisten zuschoben – Hitler und seiner Umgebung. Die übrigen galten als angeblich hilflose Rädchen in einem Getriebe, als reine Befehlsempfänger, die gezwungen waren auszuführen, was ihnen im Grunde fremd gewesen sei.

Die juristische Aufarbeitung sollte letztlich sehr unbefriedigend bleiben. Sehr viele Richter und Staatsanwälte waren an verantwortlichen Stellen des nationalsozialistischen Regimes tätig gewesen. Sie sahen keinen Bedarf für Strafverfolgung oder relativierten die strafrechtliche Verantwortung. Anders hingegen verhielt es sich mit der selbstkritischen Reflexion. In den 1960er-Jahren setzten Intellektuelle wie Alexander und Margarete Mitscherlich fort, was Hannah Arendt schon früher begonnen hatte. Sie fragten auch nach der Mitschuld des „kleinen Mannes“, der sich einem verbrecherischen Führer verschrieben hatte und für die Folgen keine Verantwortung übernehmen wollte.

Erst da gewann die Auseinandersetzung mit den Verbrechen größere gesellschaftliche Bedeutung. Vorangetrieben und unterstützt durch eine wachsende Zahl kritischer Intellektueller und Künstler lernten die Westdeutschen langsam zu akzeptieren, dass es auch ganz „normale“ Männer und Frauen gewesen waren, die ihre Menschlichkeit, ihr Gewissen und ihre Moral verloren hatten: oft Menschen aus der nächsten Nachbarschaft, sogar Freunde und Mitglieder der eigenen Familie. (...)

Und im anderen Teil Deutschlands? Ich weiß zwar, dass die junge DDR viele Menschen an sich zu binden verstand, weil sie als der antifaschistische, also der bessere deutsche Staat erschien. Viele von denen, die belastet waren, wurden tatsächlich durch Kommunisten und Antifaschisten ersetzt. Antifaschistische Lektüre und antifaschistische Filme bewegten zu Mitgefühl mit ermordeten Widerstandskämpfern. Loyalität gegenüber der DDR erschien als moralisches Gebot.

„Die DDR, mein Vaterland / ist sauber immerhin

Die Wiederkehr der Nazizeit / ist absolut nicht drin“,

dichtete Wolf Biermann noch in den 1960er-Jahren.

Der staatliche Antifaschismus der DDR diente allerdings auch als Ersatz für fehlende demokratische Legitimation. Und indem er die Gesellschaft pauschal von der rechtlichen und moralischen Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen freisprach, beförderte auch er das Verdrängen von Versagen und Schuld, gerade auch des sogenannten „kleinen Mannes“. Er ersparte ihm die kritische Selbstreflexion und ermöglichte dem Belasteten und sogar noch dem Schuldigen, sich auf die Seite der Guten zu schlagen, zu den antifaschistischen Siegern. Das Gedenken galt zudem fast nur den Widerstandskämpfern. An die jüdischen Opfer, die aus Gründen der Rassenideologie ausgelöscht worden waren, erinnern die Gedenkstätten im Osten Deutschlands angemessen erst seit dem Untergang der DDR. Die „zweite Schuld“, von der Ralph Giordano sprach, also der Unwille, sich der Aufarbeitung der Verbrechen zu stellen und die Opfer zu entschädigen, diese zweite Schuld gab es in Deutschland zweimal – in der frühen Bundesrepublik wie auch in der DDR.

Im Laufe der Zeit hat die Bundesrepublik, auch die wiedervereinigte, die Konfrontation mit den Verbrechen der Vergangenheit zu einem Kernbestand ihrer Geschichtserzählung gemacht. Auch dadurch ist sie zum glaubwürdigen Partner für ein friedvolles und gleichberechtigtes Zusammenleben von Bürgern und Nationen geworden, akzeptiert sogar von vielen Opfern und ihren Nachkommen. (...)

Zugleich wissen wir: Gedenktage können zu einem Ritual erstarren, zu einer leeren Hülle, gefüllt mit den stets gleichen Beschwörungsformeln. Wir wissen auch: Gedenktage allein bewahren uns nicht davor, im Hier und Heute gleichgültig zu werden. (...) Gestatten Sie mir, nicht einfach bei der Konstatierung dieser bedrückenden Tatsache stehenzubleiben, sondern weiter nachzufragen: Sind wir denn bereit und fähig zur Prävention, damit es gar nicht erst zu Massenmorden kommt? Sind wir überhaupt imstande, derartige Verbrechen zu beenden und sie zu ahnden? Fehlt manchmal nicht auch der Wille, sich einzusetzen gegen solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit? (...)

Gewiss werden nachfolgende Generationen neue Formen des Gedenkens suchen. Und mag der Holocaust auch nicht mehr für alle Bürger zu den Kernelementen deutscher Identität zählen, so gilt doch weiterhin: Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zur Geschichte dieses Landes. Und es bleibt etwas Spezifisches: hier in Deutschland, wo wir täglich an Häusern vorbeigehen, aus denen Juden deportiert wurden; hier in Deutschland, wo die Vernichtung geplant und organisiert wurde; hier ist der Schrecken der Vergangenheit näher und die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft größer und verpflichtender als anderswo.

In manchem Gespräch und in mancher Studie begegnet mir die Befürchtung, das Interesse der jungen Generation an den nationalsozialistischen Verbrechen werde schwinden. Ich teile diese Sorge nicht, bin mir aber bewusst, dass sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit weiter verändern wird und verändern muss. Viele Zeitzeugen hatten die Vergangenheit verdrängt, ihre Kinder die Verdrängung beklagt. Bei den Enkeln zeigt sich jetzt, dass zunehmende Distanz auch von Vorteil sein kann. Die Jungen können sich der schambehafteten Vergangenheit offener und uneingeschränkter stellen. (...)

Solange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war. Selbst eine überzeugende Deutung des schrecklichen Kulturbruchs wäre nicht imstande, mein Herz und meinen Verstand zur Ruhe zu bringen. Da ist ein Bruch eingewebt in die Textur unserer nationalen Identität, der im Bewusstsein quälend lebendig bleibt. Wer „in der Wahrheit leben“ will, wird dies niemals leugnen. Und doch konnten wir nach den dunklen Nächten der Diktatur, nach Schuld und Scham und Reue ein taghelles Credo formulieren.

Wir taten es, als wir dem Recht seine Gültigkeit und seine Würde zurückgaben. Wir taten es, als wir Empathie mit den Opfern entwickelten. Und wir tun es heute, wenn wir uns jeder Art von Ausgrenzung und Gewalt entgegenstellen und jenen, die vor Verfolgung, Krieg und Terror zu uns flüchten, eine sichere Heimstatt bieten. Die moralische Pflicht erfüllt sich nicht nur im Erinnern. In uns existiert auch eine tiefe, unauslöschliche Gewissheit: Aus dem Erinnern ergibt sich ein Auftrag. Er sagt uns: Schützt und bewahrt die Mitmenschlichkeit. Schützt und bewahrt die Rechte eines jeden Menschen.

Das sagen wir gerade in Zeiten, in denen wir uns in Deutschland erneut auf das Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen zu verständigen haben. Die Gemeinschaft, in der wir alle leben wollen, wird nur dort gedeihen, wo die Würde des Einzelnen geachtet wird und wo Solidarität gelebt wird.