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Kino, Kohlrabi und „Heldentod“

Der Krieg hatte wechselnde Gesichter. Eine Leipziger Historikerin sammelt sie. Sie will über den Totalen Krieg in Sachsen schreiben, mithilfe der Sachsen.

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Von Oliver Reinhard

Der rheinische Zungenschlag hat die Stimme des Propagandaministers verlassen, sie überschlägt sich fast vor gellendem Beschwörungswillen: „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ So hallt es am 18. Februar vor 70 Jahren, kurz nach der schweren Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad, aus Berlins Sportpalast durch das ganze Reich und die eroberten Gebiete. Es plärrt aus Hunderttausenden Funkgeräten, Volksempfängern, öffentlichen Lautsprechern. Es fegt über Schützengräben, durch Bunker, Lazarette, Straßen, über Plätze und Wohnzimmertische. Die totale Beschallung eines Volkes. Dann erstickt der Nachhall von Joseph Goebbels’ Worten im langgezogenen „Jaaa!“ der Jubelmenge vor ihm, das bald in endloses „Heil“-Geschrei übergeht.

Ländlicher Scheinfrieden: Eine Familie aus Glashütte genießt Kaffee und Kuchen im Garten zusammen mit dem fronturlaubenden Sohn (l.).
Ländlicher Scheinfrieden: Eine Familie aus Glashütte genießt Kaffee und Kuchen im Garten zusammen mit dem fronturlaubenden Sohn (l.). © AKG
1943 kam der Totale Krieg auch nach Sachsen mit all seiner zerstörerischen Kraft: Am 4. Dezember jenes Jahres starben über 1.800 Menschen beim britischen Bombenangriff auf Leipzig.
1943 kam der Totale Krieg auch nach Sachsen mit all seiner zerstörerischen Kraft: Am 4. Dezember jenes Jahres starben über 1.800 Menschen beim britischen Bombenangriff auf Leipzig. © Zentralbild/Richter
Während die Männer an die Front mussten, blieb eine Gesellschaft zurück aus Kindern, Frauen, Greisen – und Zwangsarbeitern aus dem Osten, wie sie hier in Dresden eintreffen.
Während die Männer an die Front mussten, blieb eine Gesellschaft zurück aus Kindern, Frauen, Greisen – und Zwangsarbeitern aus dem Osten, wie sie hier in Dresden eintreffen. © Rolle/Museen der Stadt Dresden
Als sich die Luftangriffe mehrten, schickte man viele Stadtkinder aufs Land. Auch nach Großröhrsdorf, wo diese Mädchen zwar in Sicherheit leben durften, nicht aber ohne Appelle.
Als sich die Luftangriffe mehrten, schickte man viele Stadtkinder aufs Land. Auch nach Großröhrsdorf, wo diese Mädchen zwar in Sicherheit leben durften, nicht aber ohne Appelle. © Schaarschuch/Museen der Stadt Dresden

Die 109-minütige Rede im Sportpalast ist eine der berüchtigtsten und folgenreichsten der Welt. Bis heute wirkt sie fort. Unter anderem dadurch, dass sie unser geläufiges Bild vom Schicksal der Eltern, Groß- und Urgroßeltern im „Totalen Krieg“ entscheidend prägt. Seit jenem 18. Januar 1943, so glauben viele, stand der Alltag auch der gesamten Zivilbevölkerung ganz und gar im Zeichen des Totalen Krieges, drang er endgültig in die letzten Lebenswinkel der Deutschen. Aber stimmt dieses Bild mit der historischen Wirklichkeit wirklich überein? Goebbels war davon überzeugt: „Das Volk ist, wie diese Kundgebung bezeugt, bereit, alles für den Krieg und für den Sieg hinzugeben. Wir brauchen jetzt nur noch zugreifen“, notierte er am Morgen nach der Sportpalastrede in sein Tagebuch. Und: „Der Totale Krieg ... wird jetzt vom Volke getragen.“

Tatsächlich war das Volk größtenteils froh, wenn es sich den Krieg möglichst weit vom Leibe halten und einen Rest Normalität leben konnte. Wie die junge Dresdnerin namens Loni, die zwei Tage nach Verkündigung des Totalen Krieges an ihren Mann an der Front schrieb, wie gerne sie sich die Operette „Der Bettelstudent“ ansehen würde: „Dorle rief mich an, dass sie 2 Theaterkarten habe, 2 Parkettplätze, je 2,50 Reichsmark.“

Kurz darauf bekam Irma Richter in Geithain Post von ihrem Bruder Herbert, der nach Königsbrück zur Offiziersausbildung kommandiert war: „Heute war ich beim Zahnarzt. Ich würde mich freuen, wenn Ihr ... einen kleinen Karton Blumenkohl u. ein paar Kohlrabi schicken würdet.“ Im nächsten Schreiben berichtete Herbert Richter, dass er „ein paar Mal im Kino u. spazieren im Großen Garten u. am Königsufer“ war und sorgte sich nach dem vielen Regen um die Erdbeer-Ernte daheim: „Hoffen wir, daß es jetzt trocken wird, wäre doch schade um die viele Beeren.“

Während weit weg täglich Tausende starben, an der „Heimatfront“ Luftschutzdienst und Arbeitseinsätze an der Tagesordnung und Lebensmittel rationiert waren, gingen die Menschen immer noch spazieren, ins Kino, in die Operette, baten um Kohlrabi und machten sich Gedanken um die Obsternte?

Für Francesca Weil sind das keine Widersprüche, vielmehr beide Seiten derselben Medaille. „Damals gab es sehr große Unterschiede, wie der Krieg von den Menschen wahrgenommen wurde“, sagt die Leipziger Historikerin. „Generell kann man sagen, dass selbst der Totale Krieg in den Dörfern zwar natürlich dadurch stets präsent war, dass Freunde und Familienangehörige an den Fronten kämpften und starben. Aber ansonsten drehte sich das Leben auch weiterhin um ganz alltägliche Dinge, fast wie im Frieden.“ In den Städten wie Chemnitz, Leipzig und Dresden aber sah es oft anders aus. „Sachsen war Rüstungshochburg, in den Metropolen schufteten Tausende Zwangsarbeiter, die Ernährungslage war ungleich prekärer als auf dem Land“, so Francesca Weil. „Man spürte den Krieg einfach deutlicher, eben weil er die persönlichen Lebensbereiche stärker beeinflusste.“

Auch in ihrem Arbeitszimmer am Dresdner Hannah-Arendt-Institut ist der Totale Krieg sehr gegenwärtig. Überall liegen Schreiben wie die von Loni und Herbert Richter, Lebenserinnerungen, Tagebücher, Feldpostbriefe, und es werden immer mehr. Jedes Zeitzeugnis, das die Historikerin aus privaten Händen empfängt, führt sie einen Schritt weiter voran auf dem Weg zu ihrer neuen Studie: Francesca Weil will die Geschichte des Totalen Krieges in Sachsen verfassen – mithilfe der Sachsen.

In der Tat ist die Alltagsgeschichte des Totalen Krieges noch ungeschrieben. Das Militärische, Wirtschaftliche, Politische der Jahre 1943 bis 1945 hingegen ist recht gut erforscht. „Aber das erklärt uns nicht, wie die Menschen fernab der Front damals dachten, was sie fühlten, welche konkreten Sorgen und Ängste sie hatten“, sagt Francesca Weil. Eine Gesellschaftsgeschichte des Totalen Kriegs ist ihr Ziel, was die Sozial- und Mentalitätsgeschichte ja gleichermaßen beinhaltet. „Die Gesellschaft in der Heimat war etwas ganz Besonderes, nämlich eine Greisen-, Frauen- und Kindergesellschaft. Nicht zu vergessen die vielen Zwangsarbeiter, Kriegsgefangenen und später auch die KZ-Häftlinge.“

Wie und warum das NS-System so lange hat funktionieren können, selbst dann noch, als die Städte sich nach und nach in Trümmerlandschaften verwandelten; bisher wird es zumeist erklärt aus militärischem und wirtschaftlichem Blickwinkel, aus Sicht der damaligen Machtstrukturen und Entscheider. „Ich glaube aber, dass uns die Perspektive der Frauen und Kinder der Realität viel näherbringt“, vermutet die Historikerin. Deshalb ist sie zur Jägerin geworden. Zur Sammlerin von persönlichen Zeitzeugnissen der Sachsen. Je mehr es werden, aus desto mehr Geschichten, aus desto mehr Wahrheiten wird ihre Geschichte des Totalen Krieges bestehen. „Und warum sollte man diese Geschichte nicht auch einmal aus damals mittel- und heute ostdeutscher Perspektive erzählen?“

Also setzt Francesca Weil das Puzzle des Totalen Kriegs in Sachsen zusammen, Stück für Stück. Schon jetzt zeichnet sich ein Bild ab, das in allen Farben des Lebens schillert, die, so unterschiedlich sie auch sind, sich irgendwann zu einem Ganzen fügen sollen. Schon jetzt lassen viele einzelne Puzzlestücke erahnen, wie faszinierend dieses Ganze einmal sein wird. Besonders eindrücklich ist das mitunter unglaubliche Nebeneinander von Krieg und Frieden: Als am 4. April 1943 fast 600 Bomber in England abheben, um Kiels Innenstadt zu zerstören, feiert Horst König in Leipzig Konfirmation und sichtet die Geschenke: „eine Armbanduhr, jedoch sehr reparaturanfällig, ein Reisenecessaire aus Kunstleder, eine Lupe und etliche Bücher“.

Als am 19. April 1943 der Aufstand im Warschauer Getto losbricht, freut sich Meißens NSDAP-Kreisleiter Hellmut Böhme über seine Söhne: „Adolf kann es kaum erwarten Soldat zu werden. Zur SS hatte er sich gemeldet ... Helmut wurde heute in das Jungvolk aufgenommen. Nun trägt auch er schon das Braunhemd der Bewegung. Er soll einmal ein richtiger Hitlerjunge werden.“

Als am 15. Juli 1943 an der Ostfront bei Kursk die letzte große Wehrmachtsoffensive scheitert, schreibt die zwölfjährige Bärbel aus Carsdorf von ihren Großeltern an die Mutter in Leipzig: „Jeder hat 2 mal für 30 Pf. Eis gegessen ... Einen Kamm habe ich auch bekommen, ich werde ihn dir aber schicken. Tin (ihr Bruder, d. Red.) boxt mich immer auf den Rücken. Die Milchkarten (alten) hast du noch?“ Nur fünf Jahre älter als Bärbel ist Nora S., als sie notiert: „Ich bin als tauglich für den RAD (Reichsarbeitsdienst, d. Red.) befunden. Vom 15. II. an bin ich dann nur noch eine Nummer, kann nie mehr meinem eigenen Willen nachgehen, sondern werde als RAD im Staatsgetriebe nach fremder Willkür getrieben. Es ist wenig Unterschied zum Bolschewismus.“

Je länger der Krieg dauert, umso mehr finden sich auch solche Bemerkungen in den privaten Aufzeichnungen. „Man kann daran ablesen, wie radikal sich das Alltagsleben der Menschen im Lauf der Monate verändert“, sagt Francesca Weil. „Die Versorgungslage wird enger, die Todesmeldungen von der Front mehren sich.“ Weil Sachsen sich in den ersten Jahren außerhalb der Reichweite alliierter Bomber befand, hatte man große Teile der Rüstungsproduktion hierher verlagert. Doch noch im Jahr der Sportpalast-Rede ändert sich das. Nach dem Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 beschreibt die geschockte Nora S. seitenlang, was sie beim Gang durch die Stadt sieht. Bald mehren sich die Luftangriffe, ziehen erste endlose Flüchtlingstrecks durch Sachsen. Die Verwaltungsstrukturen aber funktionieren bis zum Schluss; ein wesentlicher Grund für das lange, das viel zu lange „Durchhalten“ nicht nur der Sachsen.

Immer häufiger bricht der Totale Krieg mit aller Gewalt auch in den ländlichen Scheinfrieden. Am 12. März 1944 schickt die Familie von Herbert Richter aus Geithain einen Brief an dessen Einheit im Osten: „Im Block haben wir ein großen Teil mit Kohlrabi verstopft, im dritten eine Seite mit Salat ... Sonst gibt es nicht viel Neues.“ Der Brief erreicht seinen Adressaten nicht mehr. Sechs Wochen später kommt er ungeöffnet nach Geithain zurück mit dem Vermerk: „Gefallen für Großdeutschland“. Während die Eltern ihm über die Lage der Eigenversorgung in Sachen Kohlrabi und Salat berichten, ist Herbert Richter schon seit vier Wochen tot.

Weitere vier Monate später entgeht Adolf Hitler knapp einem Bombenattentat. Zwei Tage darauf kommt in Bad Lausick Herbert Richters Sohn Bernd zur Welt. 66 Jahre später erfährt er von Francesca Weils Forschungsprojekt. Kurz darauf ist ihre Sammlung mit Zeitzeugnissen über den Totalen Krieg um 157 Feldpostbriefe von Herbert Richter reicher. Und der Tag, an dem ihre Studie erscheinen kann, wieder ein kleines Stück nähergerückt.

Dr. Francesca Weil freut sich über Unterstützung in Form von Briefen, Tagebüchern, Lebenserinnerungen (außer Fotoalben) aus den Jahren 1943 bis 1945. Auch Gespräche sind möglich. Kontakt: Hannah Arendt Institut, Helmholtzstraße 6, 01069 Dresden, Tel. 0351 46332802. [email protected]