Von manfred müller
Großenhain. Wassily Kandinsky, der Erfinder der abstrakten Malerei, hätte seine Freude an der Aktion gehabt. An die 20 Graffiti-Sprayer waren am Wochenende in Großenhain zugange, um die Betonplatten-Einfriedung der Straßenmeisterei neu zu gestalten. Nicht mit den traditionell knalligen Farben, Schriftzügen und Motiven, sondern geometrischen Figuren in dezenten Schwarz- und Grautönen. „Das ist die einzige Vorschrift“, erklärt Hartmut Friedrich, der die Aktion initiiert hat. „Ansonsten kann jeder seiner Fantasie freien Lauf lassen.“ „Style needs no colour“ hat Friedrich die Aktion im Szene-Jargon genannt – Stil braucht keine Farbe. Immerhin gibt es 25 bis 30 Sprühfarben mit verschiedenen Grau-Schattierungen, sodass man damit die verschiedensten räumlichen Effekte erzeugen kann.
Etwa 300 Meter lang und drei Meter hoch ist die Betonwand an der Hohen Straße, die das Betriebsgelände der Straßenmeisterei begrenzt. Jeder der Künstler hat sechs Platten zugeteilt bekommen; insgesamt etwa drei Meter. „Es war die erste Wand in der Stadt, an der wir legal sprühen durften“, erklärt Hartmut Friedrich. Der 27-Jährige stammt aus Stauda und ist durch die Schule des Großenhainer Graffiti-Pioniers Sebastian Bieler gegangen. Heute arbeitet er als Grafikdesigner in Berlin und bringt die neuesten Trends der urbanen Sprühkunst in die Heimat zurück. Berliner Luft sozusagen. „Es ist fast wie bei einem Klassentreffen“, sagt er.
Die meisten der Sprayer kommen zwar aus Großstädten wie Dresden, Magdeburg und Berlin, aber viele haben ihre Wurzeln in der näheren Umgebung. Patrick Nitzsche zum Beispiel, der zwar in Berlin lebt, aber aus Riesa stammt. Er sprüht geometrische Figuren an die Betonwand, grafisch abstrakt, fast schon kubistisch. „Wenn man nur einen Tag Zeit hat für sein Bild, muss man sich vorher zumindest Gedanken über die Grundformen machen, die man einsetzen will“, erklärt er. Normalerweise lasse er die Umgebung mit ins Bild einfließen, aber das sei hier an der Hohen Straße kaum möglich. Die Mauer der Straßenmeisterei ist einfach zu hoch, sodass bestenfalls der dahinter liegende Schornstein infrage käme. Nitzsche holt sein Handy aus der Tasche, um zu zeigen, was er meint. Ein Foto zeigt eine Leinwand, die er mitten im Wald aufgestellt und besprüht hat. Die knorrigen Äste auf seinem Bild finden ihre Fortsetzung in den realen Baumkronen. „Die Umgebung wird quasi dekonstruiert“, sagt Nitzsche, der sich in Berlin dem Grafikdesign verschrieben hat.
Keine elitäre Veranstaltung
Dennoch ist die Graffiti-Aktion an der Hohen Straße keine elitäre Veranstaltung. Dafür sorgen vor allem die Leute vom Großenhainer Roll-Laden-Verein und die mobile Jugendarbeit. Sie haben einen Workshop für den Sprüher-Nachwuchs organisiert. An einem fünf Meter breiten Wandabschnitt können sich die Jüngsten mit Sprühdosen und Schablone oder auch freihändig ausprobieren. Etwa zwölf Kinder und Jugendliche sind am ältesten Graffiti-Spot der Röderstadt zugange; sie bekommen ihre Dosen gesponsert. „Ich staune, was die Jungs und Mädels, die von Großenhain in die Welt hinaus gezogen sind, jetzt so auf die Beine stellen“, sagt Raimo Siegert von der mobilen Jugendarbeit.
Die Röderstadt hat seit anderthalb Jahrzehnten eine höchst lebendige Graffiti- und Skaterszene, was ja irgendwie zusammengehört. Dazu natürlich Elektropop, der auch an der Hohen Straße nicht fehlen durfte. Die Initiatoren hatten den Straßenabschnitt, an dem das Sprüh-Event stattfand, extra abgesperrt. Zum einen deshalb, weil die Künstler immer mal rückwärts auf den Asphalt liefen, um ihr Werk aus der Ferne zu begutachten. Zum anderen, weil beim Workshop auch Neun- und Zehnjährige mit von der Partie waren. „Ehe es einen Unfall gibt, gehen wir lieber auf Nummer sicher“, so Siegert.
Patrick Nitzsche hat seine drei Meter Wand inzwischen fast fertig besprüht. Er tritt ein paar Schritte zurück und prüft die letzten Details. „Wenn die Grundierung hält“, sagt er, „wird das zwei Jahre lang richtig gut aussehen.“