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Konzert eines Rückkehrers

Gunter Wolf brach von Röderau aus in die Welt auf. Nach 57 Jahren dirigiert er wieder in seiner Heimatkirche.

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© Klaus-Dieter Brühl

Von Kevin Schwarzbach

Zeithain. Gunter Wolf schreitet durch die Reihen der Kirche in Röderau und lässt die Stimmen seines Männerchores auf sich wirken. Ergreifende Klänge. Doch die eigentliche Magie des Moments geht von der Kulisse aus. Gunter Wolf hält inne und genießt den Augenblick. Nach 57 Jahren der Abwesenheit dirigiert der gebürtige Röderauer wieder ein Konzert in seiner Heimatkirche. „Ein Moment, von dem ich nicht einmal zu träumen gewagt habe“, sagt Wolf.

Seine musikalische Rückkehr hat der Dirigent einer Reise seines Männerchores „Quartett Mozart“ nach Riesa zu verdanken. Dort ist die Gruppe am vergangenen Sonntag zum 8. Chorsingen im Klosterhof eingeladen. Für Gunter Wolf die perfekte Gelegenheit, am Sonnabend zuvor gleich noch ein Konzert in seiner Heimat zu geben. Überall im Ort hängen kleine Plakate mit seinem Namen, an jeder Informationstafel ist von dem Konzert zu lesen. Je näher man der Kirche kommt, desto häufiger ist Gunter Wolfs Name zu lesen. Es ist die Rückkehr eines Mannes, der vom beschaulichen Röderau in die weite Welt aufbrach.

„Nach 20 tollen Jugendjahren hier in Röderau ging es 1961 für mich nach Dresden an die Hochschule für Musik“, erzählt Gunter Wolf. Sechs Jahre studierte er im Fach Dirigieren an der „Carl Maria von Weber“ in Dresden und machte den Abschluss als Chordirigent. Bis 1988 erhielt der heute 76-Jährige Engagements als Chordirektor und Kapellmeister an den Theatern von Bautzen und Zwickau, unterrichtete nebenher an jener Hochschule, an der er selbst den Abschluss gemacht hatte. „Dann brach meine Familie in den Westen auf, nach Hamburg, die Heimat meines Vaters“, sagt Gunter Wolf. „Es war ein großer Schritt weg von Röderau, schließlich galten wir damals als Verbrecher und konnten nicht einfach zurück.“

Wenn Gunter Wolf sich an seinen Chor wendet, ist ihm seine Erfahrung anzumerken. Er macht klare Ansagen, stellt die Sänger zielgerichtet auf und unterbricht die Probe, sobald ihm etwas nicht passt. Ein freundlicher, aber bestimmter älterer Herr mit einer angenehmen Aura der Autorität. Er weiß, was er will und was dem Klang seines Chores guttut. „Ihr müsst mehr nach vorn singen“, fordert Wolf mehrmals mit schwingenden Händen von den überwiegend grauhaarigen Männern in weißen Hemden und roten Krawatten. Er selbst trägt bereits sein dunkles Jackett und hat noch reichlich Farbe im Haar.

„Heute habe ich leider nur noch wenige Verbindungen nach Röderau“, sagt Gunter Wolf. Letztes Jahr verstarb seine Mutter, sein Bruder ist mittlerweile schwer krank. „So langsam reißen die Kontakte ab.“ Doch damals, direkt nach der Flucht in den Westen, war die Sehnsucht nach der Heimat riesig. „Wir konnten in den ersten Jahren nicht so einfach zurück in meine Heimat und dort unsere Freunde und Bekannten besuchen. Das war eine schwierige Zeit, in der ich Röderau sehr vermisst habe“, berichtet der 76-Jährige.

Bereut hat er seinen Schritt trotzdem nie, versichert der Chorleiter. Er fand in Hamburg sofort Anschluss, knüpfte Kontakte und übernahm einen Chor nach dem anderen. Heute sind es insgesamt vier Stück, die unter seiner Leitung stehen. Alles Männerchöre. „Purer Zufall“, wie Gunter Wolf versichert. Zum „Quartett Mozart“ kam er 1998, weil der bisherige Chorleiter erkrankte. Statt Röderau standen seit dem Abschied nach Hamburg Konzertreisen in ganz Europa auf dem Programm, beispielsweise nach Marseille und Luzern.

Seine Heimat hat Wolf trotzdem nie vergessen. „Auch wenn ich seit Jahrzehnten in Hamburg lebe, wo alles größer und lebhafter ist, und die Verbindungen über die Jahre weniger geworden sind, ist und bleibt Röderau meine Heimat“, sagt der Chorleiter. „Deswegen habe ich mich auch um dieses Konzert in der Kirche bemüht, in der für mich alles angefangen hat.“

Damit die Wiederkehr perfekt wird, greift Gunter Wolf in der Röderauer Kirche kurzerhand mit einem seiner Sänger unter das Klavier und rückt es ein paar Meter in den Raum hinein, weil ihn sein Chor dort besser sehen kann. Bevor er die ersten Tasten anschlägt, lässt er mit ein paar schnellen Bewegungen seiner Hände das „Quartett Mozart“ ertönen. Der Männerchor singt ein Lied über Hamburg. Gunter Wolfs neue Heimat.