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Prozess um Lina E.: Kronzeuge belastet Angeklagte

Ein früherer Mittäter könnte die Verhandlung gegen Lina E. voranbringen. Der 30-Jährige sagt, er sei lange in der linken Szene unterwegs gewesen, auch durchaus gewaltbereit.

Von Alexander Schneider
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Lina E. hält sich an diesem 60. Sitzungstag eine Mappe vor das Gesicht, die anderen drei Mitangeklagten sitzen hinter den Verteidigern. Die Gruppe ist wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt.
Lina E. hält sich an diesem 60. Sitzungstag eine Mappe vor das Gesicht, die anderen drei Mitangeklagten sitzen hinter den Verteidigern. Die Gruppe ist wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt. © Sebastian Kahnert/dpa

Kurz nach zehn Uhr betritt an diesem Donnerstag der Kronzeuge erstmals den Gerichtssaal. Seine mögliche Aussage bestimmt seit Wochen den Prozess gegen die Leipziger Studentin Lina E. und ihre drei Mitangeklagten. Der Mann wird von sieben Zivilbeamten begleitet, die sich jetzt im Saal verteilen. Sie tragen Basecaps, karierte Hemden über ihrer Schutzweste und neongelbe Armbinden: „Polizei“. Drei nehmen direkt hinter dem Zeugentisch Platz und behalten Zuschauer und die Reihen der Angeklagten im Auge.

Auch vor dem Gebäude am Dresdner Hammerweg ist die Polizeipräsenz deutlich verschärft. Dutzende Uniformierte stehen bereit, am Himmel dröhnt ein Polizeihubschrauber. „Sollte der nicht besser in der Sächsischen Schweiz Waldbrände löschen?“, wundert sich eine Frau, die an der Demo vor dem Gericht teilnimmt. Schon ab 8 Uhr wurden dort Transparente ,wie „Free Lina“, gespannt – Freiheit für Lina. Auch die rund 30 Demonstranten sind wegen des Zeugen da, den sie in ihren Redebeiträgen „Verräter“ nennen.

Das Oberlandesgericht Dresden (OLG) verhandelt seit September 2021 gegen die Angeklagten im Alter von 27 bis 36 Jahren. Die Generalbundesanwaltschaft wirft ihnen gezielte Überfälle auf Rechtsextremisten vor – als kriminelle Vereinigung. Die Geschädigten waren bei den Anschlägen zum Teil schwer verletzt worden. Die 27-jährige Studentin soll eine herausgehobene Rolle in der Gruppe innegehabt haben. Sie sitzt als Einzige bereits seit November 2020 in Untersuchungshaft.

Anwalt des Kronzeugen fordert Ausschluss der Öffentlichkeit

Der nun mit Spannung erwartete Zeuge hat den Prozess in den Fokus gerückt. Erst Ende April hatte sich der Aussteiger an die Polizei gewandt – ein Insider, der sein Wissen mit verschiedenen Polizeibehörden teilt. Hunderte Seiten an Vernehmungsprotokolle soll er schon gefüllt haben. Er wird von Rechtsanwalt Michael Stephan begleitet, seinem Beistand. Der fordert den Ausschluss der Öffentlichkeit für die Dauer der Vernehmung seines Mandanten – selbst die Begründung seines Antrags sei nichts für eine öffentliche Erörterung.

Es geht um die Sicherheit des Aussteigers. Schon am Vortag wurden in dem Prozess vermeintliche Morddrohungen diskutiert. Von einem Video ist die Rede, in dem „Neun Millimeter“ für einen „31-er“ gefordert wurden. Man kann das mit „eine Kugel für den Kronzeugen“ übersetzen. Eineinhalb Stunden warten die Zuschauer draußen. Um 11.40 Uhr verkündet der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats, der Zeuge werde nun in öffentlicher Sitzung vernommen, der Antrag sei vom Tisch.

Der fast zwei Meter große, athletische Mann trägt ein hellblaues Hemd. Er spricht auffallend ruhig, anfangs wohl aus Aufregung etwas fahrig. Er sei ausgebildeter Erzieher, der zuletzt in Warschau gelebt und in einer Kita gearbeitet hatte. Doch als er im Herbst 2021 von einer Ex-Partnerin „geoutet“ wurde, habe sich sein Leben verändert. Die Frau habe ihn in einem linken Internetforum als „Vergewaltiger“ bezichtigt. Er habe daraufhin den Rückhalt in seiner Szene verloren. Die habe ihm Aufenthaltsverbote etwa für Berlin, Leipzig und Nürnberg ausgesprochen. Im November sei er in Polen angegriffen worden – offenbar auch wegen dieser Vorwürfe. Später habe er deswegen auch seinen Arbeitsplatz verloren.

Er habe nicht vorgehabt, „jemanden an den Karren zu fahren“, sagt er. Aber ein normales, selbstbestimmtes Leben führen wollen. Das sei jedoch nicht mehr möglich gewesen. Auch nachdem sein Ermittlungsverfahren wegen der angeblichen sexuellen Übergriffe – sie sollen sich 2017 zugetragen haben – im März eingestellt wurde. „Es gab keine körperliche Gewalt“, sagt er mehrfach. Es sei ihm wichtig zu sagen, „warum wir heute hier sitzen“.

Dann berichtet der Kronzeuge von einem Angriff, an dem er selbst beteiligt gewesen sei, der zweite Überfall auf einen bekannten Eisenacher Rechtsextremisten am 14. Dezember 2019. Der Zeuge sagt, er sei von Lina E.s Verlobten wenige Wochen zuvor in einem verschlüsselten Chat gefragt worden, ob er als „Scout“ mitmacht. Es sei nicht das erste und nicht das letzte Mal gewesen. Der Verlobte habe von einem missglückten ersten Überfall auf die Kneipe „Bull’s Eye“ im Oktober 2019 gesprochen. Es sei da nicht gelungen, den Wirt nachhaltig zu verletzen. Beide Überfälle sind Taten, die den Angeklagten vorgeworfen werden.

Auch Lina E. sei in Eisenach dabei gewesen

Man habe Details abgesprochen, sagt der Zeuge, Tatwerkzeuge, sichere Handys, Anfahrt. Wegen einer einschlägigen Bewährungsstrafe, zu der er 2015 in Frankfurt/Main verurteilt worden war, sei die Rolle eines Beobachters für ihn weniger gefährlich. Er sollte das „Bull’s Eye“ im Auge behalten, den Wirt verfolgen und melden, wenn er zu Hause eintrifft.

Dort hätten der Verlobte und weitere Komplizen aus Berlin, Leipzig und Weimar gewartet. Auch Lina E. sei dabei gewesen, er habe sie in einem Auto gesehen. Er selbst sei mit einem Smart von Berlin nach Eisenach gefahren, den er von dem Mitangeklagten ausgeliehen habe. Der Mann habe zu dem Zeitpunkt nicht gewusst, wofür er dessen Auto gebraucht habe.

Der Zeuge berichtet, er habe sich oft an Angriffen auf Nazis beteiligt. Auch gewalttätig, das habe dazugehört. Bei Demos habe es angefangen, dafür sei er verurteilt worden. Später sei er „klandestiner“ vorgegangen. So sei auch im Gespräch mit Lina E.s Verlobten klar gewesen, die Rechtsextremisten "nachhaltig" zu verletzen. Als Beispiel dafür nennt der Zeuge etwa, einem Gitarrenspieler die Hand zu brechen.

Der 30-Jährige bleibt bis zum Ende entspannt und ruhig, er scheint sich selbst nicht zu schützen und andere nicht mit Eifer zu belasten – auch wenn die Sympathisanten im Saal das sicher anders sehen.

Lina E. und ihren Mitangeklagten werden ein halbes Dutzend gewalttätige Überfälle auf Rechtsextremisten in Thüringen und Sachsen zwischen 2018 und 2020 vorgeworfen.

Ein Angeklagter sitzt bei der Fortsetzung des Prozesses im Oberlandesgericht Dresden auf seinem Platz und hält ein Heft vor sein Gesicht
Ein Angeklagter sitzt bei der Fortsetzung des Prozesses im Oberlandesgericht Dresden auf seinem Platz und hält ein Heft vor sein Gesicht © Sebastian Kahnert/dpa

Die Vernehmung wird häufig von Verteidigern unterbrochen, die dem Richter vorwerfen, er mache falsche Vorbehalte oder lasse den Zeugen spekulieren. Mehrfach kommt es zu hitzigen Angriffen auf Schlüter-Staats. Schon vor der Mittagspause sagt der Richter, man könnte den Eindruck haben, es ginge den Verteidigern mehr darum, den Zeugen zu unterbrechen, als ihn reden zu lassen. Später wird er bemerken, sie könnten doch nun sehen, dass sich der Zeuge nicht verunsichern lasse.

Für die Vernehmung des Zeugen sind noch etwa fünf Sitzungstage angesetzt.