Mein Missbrauch begleitet mich ein Leben lang

Ines W.* nennt es den Tag X. Knapp vier Jahre ist es her, sie arbeitete damals als Frisörin in einem Salon im Kreis Zwickau. Als sie den Mann erkannte, der da gerade den Laden betrat, versteinerte sie.
"Es war, als wenn eine große Wand zur Seite geschoben wird. Ich fand mich in dem Jugendzimmer wieder, sah das Bett, auf dem er sich gewaltsam an mir vergangen hat", erzählt Ines W. "Mir wurde auf einmal schwindlig, die Ohren piepten." Sie habe versucht, sich vor ihm zu verbergen, konnte ihm nicht den Rücken zuwenden. Er habe sie in diesem Moment nicht gesehen, doch bei ihr habe diese Begegnung einen Schalter umgelegt.
Die 56-Jährige, die anonym bleiben möchte, sitzt am Esstisch in ihrem Haus, während sie ihre Geschichte erzählt. Ihre Tochter Lynn* ist zu ihrer Beruhigung mit dabei.
"Ich wollte dich ausprobieren"
Als Ines W. 16 war, hatte sie Gefallen an einem Jungen gefunden, der etwa sechs Jahre älter war. Er gehört zur Clique, man kannte sich. Einmal nahm er sie mit in sein Zimmer im Haus seiner Eltern.
"Er hat mich aufs Bett gedrückt", sagt W. "Ich spüre noch, wie er in mich eindringt. Er hatte so einen hässlichen Geruch an sich." Als sie sich danach verschämt wieder anzog, habe er sie ausgelacht, erzählt Ines W.
"Kurze Zeit später traf ich ihn zufällig wieder und fragte ihn, warum er das getan hat. Seine Antwort war: Ich wollte dich ausprobieren." Dann bricht ihre Stimme. Ines W. wischt sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen und ringt um Fassung.
Er ist nicht der erste Mann, der sich an ihr vergeht
Niemandem habe sie damals von dem Vorfall erzählt. Zu groß sei die Angst gewesen, dass erneut ihr die Schuld dafür zugeschoben werde. Denn schon einmal hatte sich ein Mann an Ines W. vergangen. Da war sie gerade einmal zehn Jahre alt.
"Ich war immer in den Sommerferien bei einer Tante im Erzgebirge. Einmal habe ich draußen auf dem Wäscheplatz gespielt. Ein Nachbar, den ich kannte und der dort allein wohnte, schaute aus dem Fenster.
Er kam raus und meinte, ich sollte mal mit in seine Wohnung kommen, er wolle mir schöne Bücher zeigen. Er lotste mich ins Schlafzimmer und schloss ab. Er zog sich aus und legte sich nackt aufs Bett. Er hat mich angefasst und dazu aufgefordert, ihn zu befriedigen. Bevor noch mehr passiert ist, konnte ich fliehen. Wer weiß, was er sonst mit mir gemacht hätte." Wieder schießen Ines W. die Tränen in die Augen, diesmal lässt sie ihnen freien Lauf. Ihre Hände verkrampfen sich im Taschentuch.
Bis heute verfolge sie dieser schreckliche Moment. Regelmäßig habe sie Albträume. Auch am helllichten Tage würden sich die Bilder vor ihre Augen schieben. "Dann sehe ich mich als kleines Mädchen an dem Bett stehen. Sehe das volle weiße Haar des Mannes vor mir und habe den Geruch von ihm in der Nase." Der Täter sei damals 75 Jahre alt gewesen, das wisse sie aus den Gerichtsakten, die sie erst 2018 nach langer Recherche im Staatsarchiv in Chemnitz wiedergefunden hat.
Drei von vier der misshandelten Kinder sind Mädchen
Wie viele Kinder in Deutschland tagtäglich so etwas Traumatisches erleben, lässt sich nicht genau beziffern. Zu hoch ist die Zahl der Missbrauchsfälle, die nie ans Tageslicht gelangen. Polizeilich erfasst wurden 2020 bundesweit 14.594 Straftaten. Drei von vier der misshandelten Kinder waren Mädchen. Es ist davon auszugehen, dass etwa ein bis zwei Schülerinnen oder Schüler in jeder Klasse von sexueller Gewalt in der Familie und andernorts betroffen sind – so steht es im aktuellen Bericht des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Am Ende der Ferien holten ihre Eltern sie und ihre Schwester von der Tante ab. Im Auto muss Ines W. etwas gesagt haben. Was genau, weiß sie nicht mehr. "Mein Vater machte kehrt. Die Polizei war schnell vor Ort. Nur zwei Wochen später wurde der Mann zu einer Bewährungsstrafe verurteilt", sagt W. "Mich hat man direkt im Anschluss wieder in die Schule geschickt. Natürlich habe ich mir gewünscht, von meiner Familie aufgefangen zu werden. Doch im Gegenteil, meine Mutter hat mir noch vorgehalten, warum ich mit in die fremde Wohnung gegangen bin." Nie wieder sei über den Vorfall geredet worden.
Warum, das wird deutlich, je mehr Ines W. von ihrer Kindheit erzählt. Es war keine leichte. "Wir haben oft Geschenke bekommen, aber die können fehlende Zuneigung und Liebe nicht ersetzen", sagt Ines W. Die Mutter sei herrisch gewesen, oft zornig. Was die Leute im Dorf sagten, sei ihr immer wichtiger gewesen als das Seelenheil ihrer eigenen Kinder. Und der Vater? "Er hat hin und wieder mit einem Lederriemen zugeschlagen", sagt Ines W., die seit ihrem dritten Lebensjahr starke Beruhigungsmittel bekam.
Warum, weiß sie nicht. Sie erinnert sich nur daran, dass sie sich in der Schule ständig müde und apathisch gefühlt habe. Sie habe eingenässt, auch noch, als sie längst zur Schule gegangen sei. Die Mutter habe ihr auch daraus einen Vorwurf gemacht. Erst als sich Ines W. mit 13 Jahren bei einem Unfall schwer verletzte, wurden die Pillen abgesetzt. Noch heute habe sie Probleme mit der Blase und empfinde massive Scham. "Ich kann seit vier Jahren nicht mehr zum Frauenarzt gehen, obwohl das für mich immer selbstverständlich war."
"Er hat sich genommen, was er wollte"
Als sie 21 Jahre war, heiratete Ines W. Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihr. Sich auf Zärtlichkeiten einzulassen sei ihr schwergefallen. Ihre Ehe sei von Gewalt und Erniedrigung geprägt gewesen. Ihr Mann habe sie mehrfach getreten. "Er hat sich genommen, was er wollte", sagt sie. Sie wurde schwanger, doch das Baby verstarb wenige Tage nach der Geburt. Knapp zwei Jahre später kam Lynn zur Welt. Als Ines W. erneut schwanger wurde, drängte ihre Mutter sie abzutreiben. "Sie sagte zu mir: Du kommst doch so schon kaum zurecht", erzählt Ines W. "Ich wusste damals, dass es ein Fehler sein würde." Ihre Entscheidung bereue sie bis heute. Sie gibt sich selbst die Schuld am Verlust des Kindes.
In den Folgejahren habe sie "einfach funktioniert", sagt Ines W. Wie sie das geschafft hat, weiß sie selbst nicht mehr. Sie ließ sich von ihrem Mann scheiden, arbeitete in ihrem Traumberuf Frisörin, kümmerte sich aufopferungsvoll um ihre Tochter, die nach ihrem Studium wieder in ihrer Nähe wohnt. "Heute weiß ich, dass ich all meine Erlebnisse irgendwo in mir vergraben hatte", sagt die 56-Jährige. Die Verdrängung von Traumata ist in der Psychoanalyse ein bekanntes Phänomen. Viele Kinder spalten ihre belastenden Erfahrungen ab, um ihre Seele zu schützen. Sie werden ins Unterbewusstsein verschoben.
Ines durchlebt den Missbrauch wieder und wieder
Der Tag X, an dem der Täter von einst den Salon betrat, sollte das Leben von Ines W. verändern. Fortan kam er regelmäßig zum Haareschneiden. Einmal sollte sie ihn bedienen, sie lehnte das ab. Über die Gründe konnte sie mit ihrer Chefin nicht reden.
"Dieser Druck, funktionieren zu müssen, wurde immer größer und hat mich auch körperlich belastet", sagt Ines W. Weil ihr Blutdruck trotz Medikamenten nicht sinken wollte, zog ihre Hausärztin sie schließlich aus dem Verkehr. Parallel suchte sie Unterstützung bei der Lebensberatung der Diakonie Zwickau. Die Mitarbeiter rieten ihr, einen Psychotherapeuten aufzusuchen.
Der habe später ein treffendes Bild gefunden: Es ist wie ein Schrank, in den man immer mehr Sachen hineinstopfen möchte, doch irgendwann halten die Türen nicht mehr zu. "Ich litt unter Schlaflosigkeit, war energielos und durchlebte die Missbräuche immer und immer wieder", erinnert sich Ines W. Auch bei einer Psychiaterin sei sie in Behandlung gewesen.
Die Diagnose: Depression und posttraumatische Belastungsstörung. Ines W. kam für sechs Wochen zur Reha nach Pulsnitz, später für sechs Wochen in die Tagesklinik Glauchau. Zwischenzeitlich suchte sie Unterstützung bei einer Selbsthilfegruppe. Sie besuchte auch zwei Hospize, um den Tod ihres ersten Babys verstehen zu lernen.