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Wenn Missbrauchsopfer der Kirche ausgeliefert sind

Ein Fall ist seit 2013 aktenkundig. Als die Katholische Kirche ermittelt, sind die Vorwürfe strafrechtlich verjährt. Was macht das mit Opfern?

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Der erst 1963 heiliggesprochene Vinzenz Pallotti ist der Namensgeber des Pallottiner-Ordens. Diese Statue steht vor der Sankt-Marien-Kirche in Limburg.
Der erst 1963 heiliggesprochene Vinzenz Pallotti ist der Namensgeber des Pallottiner-Ordens. Diese Statue steht vor der Sankt-Marien-Kirche in Limburg. © KNA

Von Jens Schmitz*, Tobias Wolf und Ulrich Wolf

Es gibt sie neuerdings wieder, die Tage an den Ellen Adler** am liebsten das Telefon abstellen würde. Weil sie erneut enttäuscht wurde von ihrer geistigen Heimat, der Katholischen Kirche, enttäuscht, wie mit ihr und anderen Missbrauchsbetroffenen umgegangen wird. Wie oft Worten kein Handeln folgt.

Wie hält man das aus? „Man ist immer damit beschäftigt, es zu überstehen“, sagt Ellen Adler. Sie lebt in einer Stadt in Sachsen. Erst vergangenes Jahr nahm sich der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers ihrer Sache an und gab eine Untersuchung in Auftrag. Fast sieben Jahre, nachdem Ellen Adlers Fall erstmals aktenkundig wurde und drei Jahre, nachdem die Vorwürfe strafrechtlich verjährt sind.

Missbrauch mehr als zwei Jahrzehnte verdrängt

Am Anfang war die Suche nach christlicher Spiritualität. Sogar Nonne wollte Ellen Adler werden, gelobte vor einem Priester Armut, Keuschheit und Gehorsam. Aber als sie sich nach dem Mauerfall auf den Weg macht, der sie in ein Kloster nach Österreich führen soll, nehmen die Träume ein jähes Ende. Noch heute fällt es ihr schwer, darüber zu sprechen.

Als Zwischenstation hatte Adlers Heimatbischof eine Ausbildungsstätte des Pallottiner-Ordens in Franken empfohlen, in der sie ab Januar 1990 auf Reisepapiere wartet. Dort sei ihr von einem angehenden Mönch, dem heutigen Pater Vogt**, Geschlechtsverkehr aufgezwungen worden. Die Aufnahme ins Kloster wird ihr anschließend verweigert. Vogt hat zwar eine andere Sicht darauf, will sich aber nicht öffentlich äußern. Ein Zweiter, Pater Hahn**, soll die Tat gedeckt haben.

Seit 2010 wird die Katholische Kirche immer wieder von schweren Missbrauchsfällen erschüttert.
Seit 2010 wird die Katholische Kirche immer wieder von schweren Missbrauchsfällen erschüttert. © dpa/Robert Michael (Symbolbild)

Mehr als zwei Jahrzehnte versucht Ellen Adler, zu verdrängen. Sie arbeitet, studiert und flüchtet sich in eine Ehe, die nach ein paar Jahren geschieden wird. Gut 20 Jahre später will sie ihrem Glauben wieder näherkommen. Das heißt auch, sie will, sie muss mit ihrer Scheidung umgehen, um es auf katholische Weise „in Ordnung zu bringen“.

Vor der Kirche gilt sie noch als verheiratet. „Mein kirchenrechtlicher Status sollte meiner Lebensrealität angepasst werden.“ Mit dieser Vorstellung sei sie in ein Ehenichtigkeitsverfahren gegangen.

Als sie vor dem Erfurter Offizial, dem unter anderem für Sachsen zuständigen Kirchengericht, dazu befragt wird, brechen die verdrängten Erinnerungen unter Tränen hervor. „Auf einmal entsteht aus Bruchstücken von Erinnerungen ein Film, den man vorher nicht im Kopf hatte.“

Weiße Leinengewänder hängen im Pallottiner-Missionshauses Limburg: Sie gehören zur liturgischen Ausstattung der Patres während einer Messe.
Weiße Leinengewänder hängen im Pallottiner-Missionshauses Limburg: Sie gehören zur liturgischen Ausstattung der Patres während einer Messe. © KNA

Offizial (Kirchenrichter) ist damals ein Mann, der heute als Pfarrer in einer Thüringer Kleinstadt arbeitet. Der Endfünfziger erinnert sich an Ellen Adler. „Ich dachte damals, mein Gott, was hat die Frau schon mitgemacht.“ Sein Fokus habe damals mehr auf der eherechtlichen Bewertung der Vorgeschichte der Frau gelegen.

Für die Akten schreibt der Offizial ein Eindruckszeugnis, in dem er feststellt, dass die Frau eine Vergewaltigung erlebt habe und nicht der geringste Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit bestehe. Ein paar Monate später beendet er seine Tätigkeit am Kirchengericht.

Heute sagt der Pfarrer, das Offizialat habe seinerzeit Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch weitergeleitet, aber der Fall der Frau sei eindeutig eine Erwachsenenstraftat gewesen. Er sei mit dem Fall nicht noch einmal in Kontakt gekommen. „Wenn sie sich an den Bischof gewandt hat, dann hätte das Bistum etwas unternehmen müssen.“

Berliner Erzbischof entschuldigt sich

Ellen Adler kämpft monatelang mit ihren Erinnerungen, will aber auch kein Opfer sein. Außerdem hat sie drei Kinder, für die sie da sein will. Für Adler ist klar: Der Fall ist aktenkundig, nun kümmert sich jemand.

Monate nach Erfurt trifft sie den damaligen Dresdner Bischof Heiner Koch. Ein zweites Gespräch folgt. Die Erinnerungen darüber gehen auseinander. Ellen Adler sagt, sie habe mit Koch über ihre Situation geredet und die Übergriffe des Mönchs angesprochen. Den Bischof habe sie als zugewandt und respektvoll erlebt, den Moment als hilfreich, unterstützend und wohltuend. Sie sei davon ausgegangen, dass ein kirchenrechtliches Verfahren läuft. Ein Moment, der Mut macht.

Heiner Koch, heute Erzbischof von Berlin, bestätigt „zwei intensive seelsorgliche Gespräche mit der Betroffenen“. Er erinnert sich nicht, dass von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung die Rede war. „Sollte ich Signale oder Hinweise nicht wahrgenommen haben, so bedaure ich dies zutiefst und bitte die Betroffene um Entschuldigung.“

Der Berliner Erzbischof Heiner Koch bittet die Betroffene um Entschuldigung. „Sollte ich Signale oder Hinweise auf Missbrauch nicht wahrgenommen haben, so bedaure ich dies zutiefst.“
Der Berliner Erzbischof Heiner Koch bittet die Betroffene um Entschuldigung. „Sollte ich Signale oder Hinweise auf Missbrauch nicht wahrgenommen haben, so bedaure ich dies zutiefst.“ © Erzbistum Berlin/Walter Wetzler

Das Zeugnis des Offizialats sei ihm nicht bekannt. „Mit der jetzt geltenden Verfahrensordnung hätte mir der Vorwurf angezeigt werden müssen.“ Seit 2020 gilt die Missbrauchsordnung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), die schutzbedürftige Erwachsene umfasst.

Adler entdeckt, dass „ihr“ mutmaßlicher Täter in einem Ordenshaus in Sachsen Kurse gibt. Sie meldet sich dort und bekommt den Rat, sich an einen Ordensbruder zu wenden. Ellen Adler sagt, dieser habe ihr eine Therapie angeboten, für die sie rund 7.000 Euro bezahlen sollte. Sie sei fix und fertig gewesen. „Ein Ordensmann hat mich vergewaltigt und ein anderer will mit meinem Trauma Geld machen?“ Später habe sich der Pater entschuldigt.

Sich der Vergangenheit zu stellen, belastet Adler. Ihre Hausärztin besorgt therapeutische Unterstützung und rät, eigene Aufklärungsversuche mit der Kirche zunächst abzubrechen. Andernfalls werde sie das nicht überleben. Ellen Adler beschäftigt sich mit Theologie, auch um ihr Verhältnis zur Kirche und ihren Glauben an Gott zu klären. Sie rechnet mit einer jahrelangen Verfahrensdauer, bis irgendwann vielleicht ein Ergebnis aus Rom vorliegt.

Jesuiten verbieten Beschuldigtem Kurse

Heiner Koch geht in der Zeit als neuer Erzbischof nach Berlin, Heinrich Timmerevers wird Bischof von Dresden-Meißen. Ellen Adler vertraut darauf, dass der neue Bischof den Fall weiterverfolgt. 2018 sieht sie wieder den Namen von Pater Vogt in einem Prospekt eines Jesuiten-Besinnungshauses und fortan gefühlt in allen Programmen. Ellen Adler wird klar: Wenn der Mann immer noch im Einsatz ist, kann es mit einem kirchenrechtlichen Verfahren und weiteren Ermittlungen nicht weit her sein.

Sie kommt in Kontakt mit katholischen Frauenverbänden, nimmt im September 2019 an einer Tagung „Gewalt gegen Frauen in Kirche und Orden“ teil. Dort erzählt sie von sich.