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Aus dem Mauseloch in die Welt: Ein Nachruf auf den Lyriker Wulf Kirsten

Der gebürtige Sachse Wulf Kirsten starb 88-jährig. Er war Landvermesser, Sprachkritiker, Hügelmensch und ein ganz großer Dichter.

Von Karin Großmann
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Wulf Kirsten, 1934 in Klipphausen bei Meißen geboren, starb am Mittwoch im Krankenhaus von Bad Berka. In der Reihe „Poesiealbum“ gab er 1968 sein Debüt.
Wulf Kirsten, 1934 in Klipphausen bei Meißen geboren, starb am Mittwoch im Krankenhaus von Bad Berka. In der Reihe „Poesiealbum“ gab er 1968 sein Debüt. © dpa-Zentralbild

Eine Mutter hatte fünf Kinder, die Kinder wuchsen geschwinder …, heißt es in einem Gedicht von Wulf Kirsten. Wie die anderen saß er löffelklappernd am Tisch. Das Kleinbauernhaus steht rechter Hand die Straße hinauf in Klipphausen bei Meißen. In diese Kindheitslandschaft kehrte der Autor mit Gedichten und Erzählungen immer wieder zurück.

Bei keinem anderen heutigen Lyriker ist der Bezug zwischen Herkunft und Werk so eng wie bei ihm. „Die Kindheit ist der größte Schatzbehalter“, sagte er einmal im SZ-Gespräch. Die sanft gehügelte überschaubare Welt wurde ihm zum Modellfall. Er beschrieb, wie er am grasverfilzten Wiesenhang liegend die Wolken bestaunte, wie der Soldatentross brutal durch die Dörfer zog und die Flüchtlinge im Tal der Wilden Sau ihren schlesischen Dialekt unter das Sächsische mischten. Das Chaos der Kriegs- und Nachkriegszeit hat ihn geprägt. „Das ist aus dem Kopf nicht wieder herauszukriegen. Ich muss es erzählen. Ich habe nur dieses eine Leben.“ Dieses Leben endete am 14. Dezember, wie jetzt erst bekannt wurde. Wulf Kirsten wurde 88 Jahre alt.

Mehr als vierzig Jahre lang hat er in Weimar gelebt. An der Längswand seines Arbeitszimmers steht ein Regal nur mit Lyrik, alphabetisch sortiert. Er hätte es mit sich selbst füllen können. Als 1986 sein berühmtes Buch „Die Erde bei Meißen“ erschien, verkaufte Reclam in einem Vierteljahr 11.000 Exemplare, das Stück für 1,50 DDR-Mark. Sein letzter Lyrikband „Erdanziehung“ kam 2019 heraus.

Wenn die Kanzlerin „bedript“ aus der Wäsche schaut

Dazwischen aber: Was für ein Werk! Es gibt darin Libellentümpel und Mistelbälle, Schleichwege und Stolperwurzeln, Waldkauz und Herzgespann. Doch gegen das Etikett Naturdichter hat sich Wulf Kirsten immer verwahrt. Ihn interessierte die Landschaft als geschichtlicher, sozialer, menschengemachter Ort. Er hielt die Schönheit knorriger Kirschbäume fest und die Verluste. In den letzten Jahren wurde der Ton bitterer und ironischer. Der Autor haderte mit dem Zeitgeist. Er beklagte die „Allmacht des Marktes“ und die enttäuschten Hoffnungen im wiedervereinten Land, die verkrusteten Strukturen der Bürokratie. „Nur die Kirchen tanzen noch aus der Reihe.“ Die „armselige Suppentopf-Bescheidenheit“ seiner Kindheit sei den Nachfahren in der Wohlstandsgesellschaft nicht zu vermitteln. Und die Kanzlerin schaue „bedript“ aus der Wäsche.

Mit der Erinnerung an vergangenes Leben bewahrte der Autor auch die Wörter dafür. Als junger Mann fuhr er mit dem Rad über die linkselbischen Dörfer zwischen Kleinschönberg und Prinzbachtal, seinen Weltmittelpunkt, und sammelte die bäuerlichen Mundarten, bevor sie ausstarben mit der Technisierung der Landwirtschaft. Die Genauigkeit im Benennen der Dinge war ihm Prinzip. Er hörte den Leuten zu. Auf einem Wanderweg, den die Gemeinde Klipphausen 2019 anlegte, kann man ihm folgen. Manchen gefärbten Ausdruck übernahm er später ins hochsprachliche Gedicht. Mit der Kirsten-Sprache, sagte Martin Walser, könne man sich verproviantieren gegen Geschwindigkeit, Anpassung und Verlust. Diese Sprache urteile nicht. „Sie schleppt Sachen heran. Gegen das Vergessen.“ Kirsten selbst nannte sich spöttisch ein Auslaufmodell. Finden statt erfinden war sein literarisches Credo.

"Der Große Kirsten" geht in die Literaturgeschichte ein

Das war dem Steinmetzsohn nicht in die Wiege gelegt. Erst mit der Oberschulzeit in Meißen öffnete sich ihm die Welt der Literatur. Kirsten absolvierte eine Lehre als Handelskaufmann und holte an der Arbeiter- und Bauernfakultät das Abitur nach. Er studierte in Leipzig und sollte Lehrer werden für Russisch und Deutsch. Die meiste Zeit aber verbrachte er in der Deutschen Bücherei. „Ich hatte ein Mauseloch gefunden, aus dem ich aus der DDR hinauszublicken vermochte auf das Weltläufige.“ 1965 ging er als Lektor für den Aufbau-Verlag nach Weimar. Auch in Thüringen sind die Hügel von Geschichte durchpflügt. Zusammen mit seinem Sohn gab er ein Lesebuch mit Texten von Buchenwald-Häftlingen heraus.

Von Anfang an kümmerte sich der Schriftsteller um das Werk anderer. In seiner „geistesfernen Dorfeinsamkeit“ schrieb er Gedichte ab, die ihm gefielen. Später sammelte er Vergessenes, Verschmähtes und Verdrängtes. Aus diesem „Krausimausi“ entstand ein Projekt, das als „Der Große Kirsten“ in die Literaturgeschichte eingehen wird: Der Band „Beständig ist das leicht Verletzliche“ ordnet rund tausend Gedichte von 360 Autoren zu einem Spiegelbild der deutschsprachigen Moderne. Damit setzte er zugleich einen Schlusspunkt unter die Geschichte des Züricher Ammann Verlags.