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Blut und Hoden: Rammsteins Sänger hatte es schon immer mit Sex und Gewalt

Vergewaltigungspoesie, Pimmelskulpturen, Porno - alles nur Kunst? Die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann deuten auf das Gegenteil hin. Eine Betrachtung.

Von Oliver Reinhard
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Der deutsche
#metoo-Skandal? Immer mehr junge Frauen berichten von sexuellem Missbrauch durch Rammstein-Sänger Till Lindemann.
Der deutsche #metoo-Skandal? Immer mehr junge Frauen berichten von sexuellem Missbrauch durch Rammstein-Sänger Till Lindemann. © Archivfoto: imago

Triggerwarnung: In diesem Text geht es auch um sexuelle und sexualisierte Gewalt. Einige Passagen könnten bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen. Bitte seien Sie achtsam, wenn das bei Ihnen der Fall ist.

Man sollte die Kunst vom Künstler trennen – diese Forderung wird beständig ins Feld geführt, wenn es darum geht, Künstlerinnen und Künstler als Menschen zu verteidigen, sobald ihre Kunst als problematisch oder gar gefährlich in der Kritik steht. Doch das Trennungsgebot war immer schon eine leere Phrase. Weil Künstlerinnen und Künstler sich eben nicht von sich selbst als Privatmensch vollständig entkoppeln, sobald sie Kunst schaffen.

Sie sind stets auch als sie selbst schöpferisch tätig, als Individuum, als Charakter, als Persönlichkeit, samt ihrer Gedanken, Wertvorstellungen, Fantasien und Leidenschaften. All dies fließt in ihre Kunst ein, mal intensiver, mal weniger. Das galt für Goethe ebenso wie für Leni Riefenstahl und gilt für Madonna nicht minder als für Lisa Eckardt. Auch für Till Lindemann, der im Verdacht steht, das Zentrum des womöglich größten Missbrauchsskandals mindestens der deutschen Popgeschichte zu sein.

Rammstein-Konzerte sind ein Spektakel für alle Sinne. Ihre riesigen Stadionkonzerte sind zumeist sehr schnell ausverkauft. So war es auch bei den beiden Konzerten der Band im Dresdner Rudolf-Harbig-Stadion 2019.
Rammstein-Konzerte sind ein Spektakel für alle Sinne. Ihre riesigen Stadionkonzerte sind zumeist sehr schnell ausverkauft. So war es auch bei den beiden Konzerten der Band im Dresdner Rudolf-Harbig-Stadion 2019. © Malte Krudewig/dpa (Archiv)

Unschuldsvermutung und Glaubwürdigkeitsvermutung

Selbstverständlich gilt bis zur endgültigen Klärung der Vorwürfe durch Gerichte auch für den Sänger der Band Rammstein die Unschuldsvermutung. Ebenso gilt die Glaubwürdigkeitsvermutung für die Frauen, die Lindemann vielfachen Missbrauch vorwerfen, teils nach Verabreichung von K.-o.-Tropfen.Mit dem Video der Influencerin Kayla Shyx vom Dienstag haben die Verdachtsmomente eine neue Dichte erreicht.

Demnach habe nicht nur vereinzelt und womöglich insgeheim, vielmehr systematisch und mit Wissen großer Teile der Rammstein-Crew die extra dafür angestellte „Managerin“ auf Partys vor und nach den Konzerten sowie aus der „Row Zero“ – der ersten Reihe vor der Bühne – junge Frauen zumeist im Alter von um die 20 oder jünger rekrutiert und nach der Show Till Lindemann zugeführt. Der 60-Jährige habe sich dann an der Auswahl nach Gusto bedient.

Erinnerungslücken, Übelkeit und Wundmale

Nach dem Bericht der Irin Shelby Lynn, die sich vergangene Woche nach dem Rammstein-Konzert in Vilnius als Erste äußerte, wächst täglich die Zahl an Aussagen von Frauen aus mehreren Ländern, die jene mutmaßlichen Vorgänge bestätigen. Auch Kayla Shyx belegt das im Video mit Chat-Protokollen und Fotos. Viele berichteten, sie hätten nach dem Genuss bereitgestellter Getränke Erinnerungslücken und Übelkeitsanfälle, einige seien erst später verwirrt und körperlich zerschunden zu sich gekommen.

Wieder andere erzählen vom Sex mit Lindemann, teils während des Songs „Deutschland“, bei dem der Sänger für einige Minuten nichts zu tun hat und zu ihnen unter die Bühne gekommen sei, um sie zu missbrauchen. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, und nur dann, würde sich Till Lindemann einreihen in die Row Zero jener beispielhaften Persönlichkeiten, bei denen Künstler und Mensch faktisch deckungsgleich sind.

Begeisterung über Dresdner Penis-Ausstellung

In seinem Fall drängt sich dieser Eindruck gleichwohl besonders auf. Nahezu seit den Anfängen in den Neunzigern spielten Gewalt und Sex Hauptrollen in der Kunst von Till Lindemann und Rammstein, ebenso wie das Hantieren mit der Ästhetik des Nationalsozialismus. Irritationen darüber wurden von der sehr schnell sehr massiv anwachsenden Zahl an Fans und noch mehr von begeisterten Journalisten unter Berufung auf Kunstfreiheit, künstlerische Doppelbödigkeit und bewusstem – natürlich genialem – Spiel der Band mit Tabubruch und Provokation entkräftet.

Ungebrochene Begeisterung erntete Lindemann auch für seine Gedichte, die oft ähnliche Inhalte hatten, und für seine Kunst. Als er etwa 2015 in der Dresdner Galerie Holger John Werke zeigte, die hauptsächlich aus Penissen in allen möglichen – auch extrem gewaltvollen – Darstellungsvarianten bestand sowie aus dem Relief eines Gewehrs in einem Hintern mit Blutspritzern, herrschte ungetrübte Freude. Schließlich gelten Sex und Gewalt spätestens seit Sigmund Freud ohnehin als Geschwister, was die Kunst seit Jahrzehnten auch auf mannigfaltige Weise ausdrückt. Und für alle, die an Lindemanns Pimmel-Art größeres Interesse haben, verkauft er im Online-Shop "Doctor Dick" selbstgemachte und handsignierte Penis-Kunstwerke.

Solche Penis-Kunst, wie Till Lindemann sie unter anderem 2015 in der Dresdner Galerie Holger John zeigte, verkauft er über seinen Online-Shop Doctor Dick.
Solche Penis-Kunst, wie Till Lindemann sie unter anderem 2015 in der Dresdner Galerie Holger John zeigte, verkauft er über seinen Online-Shop Doctor Dick. © Doctor Dick

Eine Hymne auf Vergewaltigung und K.o.-Tropfen

Zu mehr als Irritationen kam es, als der Poet Lindemann 2020 im Band „100 Gedichte“ über eine Vergewaltigung mithilfe von K.-o.-Tropfen schrieb, wie sie einige seiner mutmaßlichen Opfer jetzt erlebt haben könnten: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst. (...) Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas). Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen.“

Damit war selbst für viele Fans die Grenze der Kunstfreiheit hin zur Verherrlichung eines strafbaren Gewaltakts gegen Frauen überschritten. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch reagierte seinerzeit typisch: „Die moralische Empörung über den Text ... basiert auf einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten ‚lyrischen Ich‘, mit dem Autor Till Lindemann“, so Kiwi-Chef Helge Malchow. Kurz: Man müsse den Künstler Till vom Menschen Lindemann trennen.

Späte Reaktion des Buchverlags auf die Vorwürfe

Da die Kritik nicht abschwellen wollte, sah sich Malchow dann doch zur sanften Distanzierung genötigt: „Sexualisierte Gewalt gegen Frauen gehört benannt und bekämpft.“ Man sei aber nun sensibilisiert und werde viele „wertvolle Impulse“ der Debatte in die weitere Arbeit einbeziehen.

Ein „wertvoller Impuls“ bewog den Verlag jetzt, drei Jahre später, nach Bekanntwerden der jüngsten Vorwürfe, zur Trennung von Lindemann. Allerdings nicht wegen des massenhaften Missbrauchs-Verdachts. Sondern wegen eines „Porno-Videos“, in dem auch der erste bei Kiwi verlegte Gedichtband des Sängers eine Rolle spielte. Dabei habe Lindemann für den Verlag „unverrückbare Grenzen im Umgang mit Frauen“ überschritten, was das Vertrauensverhältnis „unheilbar zerrüttet“ habe.

Ein etabliertes Showelement von Rammstein: Lindemann spritzt mit einer Schaumkanone in Form eines Penis die ersten Publikumsreihen ab.
Ein etabliertes Showelement von Rammstein: Lindemann spritzt mit einer Schaumkanone in Form eines Penis die ersten Publikumsreihen ab. ©  [M] dpa / SZ

Im Pornovideo würgt Lindemann seine Sexpartnerin

Tatsächlich penetriert der Superstar im Video „Till The End“ ein Exemplar des besagten Bandes „In Stillen Nächten“. Außerdem zwingt er eine Frau zu brutalstem Oralsex, bei dem sie an seinem Penis beinahe zu ersticken scheint. Es ist nicht das einzige sexualgewaltvolle Video dieser Art aus Lindemanns Solo-Projekt, deren unzensierte Versionen man ausschließlich auf Pornokanälen findet.

Im Clip zum Song „Platz Eins“ geht es hemmungslos hardcore zur Sache, Penetration und Fellatio inklusive. In einer Szene würgt Till Lindemann seine Sexpartnerin; heute muss man beim Betrachten unwillkürlich an die Gewaltspuren denken, die einige mutmaßliche Missbrauchs-Opfer an sich fotografiert haben. Das Motiv einer blutigen Vagina als erotisierender Fetisch kommt in „Platz Eins“ ebenso vor wie in „Knebel“; hier leckt Lindemann gierig darin herum. Nur künstlerische Offenbarungen? Oder auch Privatmenschliche?

Ein Mann mit Gewaltfantasien: Auch im Porno-Videoclip "Platz Eins" hat Lindemann expliziten und gewalttätigen Hardcore-Sex, drückt eine seiner Gespielinnen an die Wand und würgt sie.
Ein Mann mit Gewaltfantasien: Auch im Porno-Videoclip "Platz Eins" hat Lindemann expliziten und gewalttätigen Hardcore-Sex, drückt eine seiner Gespielinnen an die Wand und würgt sie. ©  Screenshot: SZ

Mutmaßliche Opfer werden wieder zu Täterinnen gemacht

Trotz respektive gerade wegen der täglich anwachsenden Indizienlast melden sich auch entschiedene Fürsprecher Lindemanns vielfach zu Wort. Dabei kommt es zu den üblichen Schmähungen bis hin zu Drohungen gegen die mutmaßlichen Opfer, die angeblich selbst schuld seien, sich nur wichtig tun und/oder Lindemann aus Neid oder Frustration ruinieren wollten; eine Art internationale Verschwörung also.

Damit beweisen sie zugleich, warum so viele Missbrauchsopfer seit Jahrhunderten den Missbrauch verschweigen und erst davon zu berichten wagen, wenn irgendjemand den Anfang macht. Wie etwa die Schauspielerin und Autorin Asia Argento im #metoo-Fall des mächtigen US-Medienmoguls Harvey Weinstein. Oder wie Shelby Lynn im mutmaßlichen Fall des mächtigen und von unzähligen Menschen idolisierten Popstars Till Lindemann.

Rammstein-Düfte namens „Kokain“, „Sex“ und „Pussy“

Die vier ausverkauften Konzerte vor 240.000 Fans im Münchner Olympiastadion sollen ab Mittwoch dennoch stattfinden. Eine seltsame Vorstellung: oben auf der Bühne ein des massenhaften Missbrauchs Verdächtiger, unten Tausende, die trotz allem seinen Zeilen über Sex und Gewalt mitsingen ... Fantum trieb schon immer bizarre Blüten, und die Band hat Millionen hartgesottener Fans, sie ist ein massiver Wirtschaftsfaktor, da fällt das Ziehen der Notbremse freilich schwer.

Immerhin wird es keine Row Zero geben und keine Partys. Auch wurde Lindemanns Mädchen-Zuführ-Managerin Alena Makeeva vom Management am Dienstag entlassen. Was genau damit eingestanden wird, ist noch schwer zu sagen. Überhaupt lässt sich das Katastrophenmanagement der Band mit Blick auf ihre dünnen Statements nur als katastrophal bezeichnen. Inzwischen hat man eine Anwaltskanzlei damit beauftragt. Das wäre besser schon letzte Woche geschehen.

Die Drogeriekette Rossmann handelte ungleich entschlossener und nahm ihre Rammstein-Düfte aus dem Sortiment. Sie heißen „Kokain“, „Sex“ und „Pussy“.