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Der neue Roman von Clemens Meyer ist ein Buch voller Wut und Wucht

Karl May, Krieg, Neonazis: In einem Tausendseiter spiegelt der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer die Zeit. Er bändigt das Chaos.

Von Karin Großmann
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Der neue Roman von Clemens Meyer erscheint an diesem Mittwoch, „Die Projektoren“ ist nominiert für den Deutschen Buchpreis.  Foto: Hendrik Schmidt/dpa
Der neue Roman von Clemens Meyer erscheint an diesem Mittwoch, „Die Projektoren“ ist nominiert für den Deutschen Buchpreis. Foto: Hendrik Schmidt/dpa © dpa

Was hat die braune Terror-Zelle aus Zwickau mit dem Fantasten Karl May zu tun? Was verbindet den jugoslawischen Staatschef Tito mit dem amerikanischen Starschauspieler Lex Barker? Was treibt die Doktoren einer Leipziger Irrenanstalt an und was die Atze-Leser der DDR? Das erzählt Clemens Meyer in seinem neuen Roman. Nein, er erzählt nicht, er jagt durch Zeiten und Räume und hinein in die Stimmen der Lebenden und der Toten. Manche Figuren gespenstern durch den Text wie Phantome. Sie sind nicht zu fassen. Vergangenes ereignet sich heute. Gegenwart kippt ins Gestern.

Das richtige Buch zur richtigen Zeit

Leerstellen bleiben. In einer zerrissenen, zersplitterten Welt kann ein Schriftsteller nicht so tun, als gäbe es einen Sinn, der bloß aufzudröseln wäre. Meyers Zugriff auf diese Welt scheint hier der einzig mögliche zu sein: Er liefert Fragmente. Der Leipziger schreibt das richtige Buch zur richtigen Zeit. „Die Projektoren“ ist ein Werk voller Wut und Wucht. Der Titel erinnert an Gerstäckers „Regulatoren von Arkansas“ oder an „Die Tudoren“ von Aleksandar Tisma. Die Projektoren stammen von Zeiss Ikon Dresden, später Pentacon. Sie kommen in vielen Kinos zum Einsatz, zuletzt auf dem Lkw eines Wanderkinos. Zugleich steht das Wort Projektoren für Menschen, die andere manipulieren, Unruhe stiften und Schaden anrichten.

Die Bedrohung kann jederzeit tödlich enden. Der Nationalismus floriert. Meyer schildert die brutalen Auseinandersetzungen im Vielvölkerstaat Jugoslawien Anfang der Neunzigerjahre und verschränkt sie mit Kämpfen im Zweiten Weltkrieg – und mit den Kulissen der frühen Karl-May-Filme. Die Orte sind dieselben. In einem Talkessel sitzen Kroaten, Bosnier und Serben in den Drehpausen friedlich zusammen. Als Indianer und Cowboys schlagen sie zum Schein aufeinander ein. Drei Jahrzehnte später in diesem Tal meinen sie es bitterernst. Südslawische Blutsbrüder befehden sich.

Bei einer Reise mit dem Goethe-Institut sei er auf diese Spiegelung der Geschichte gestoßen, sagte Clemens Meyer im SZ-Gespräch. „Da dachte ich gleich, daraus muss man was machen.“ Der kroatische Schriftsteller Edo Popovic begleitete ihn im Velebit-Gebirge. Im Roman gibt der Autor seine Erfahrung, die Ortskenntnis und den Gewährsmann einem deutschen Journalisten mit. In bester Hitchcock-Manier taucht Meyer in seinen Filmen und Büchern auf. Mancher Satz einer Figur klingt wie für ihn bestimmt. „Der Roman, wie ihn die Moderne versteht, ist ein Monolith, ein Chaos aus Stimmen …“, erklärt ein Deutschlehrer in Beograd seinem Sohn. Meyers Monolith hat über tausend Seiten. Er bändigt das Chaos. Unbedingt ein Kandidat für den Deutschen Buchpreis.

Mit dem Wanderkino durch den Nahen Osten

Der Sohn des serbischen Deutschlehrers gehört zu den Hauptfiguren. Er verliert seine Eltern beim Angriff der Wehrmacht 1941, geht zu den Partisanen, wird nach Jahren auf einer Gefängnisinsel 1957 im Velebit ausgesetzt, heuert als Komparse und Übersetzer von Lex Barker beim Drehstab der Karl-May-Filme an und verarbeitet seine Kriegserlebnisse später in Westernheftchen für einen Verleger in Dortmund: „ein Gastarbeiter hinter der Schreibmaschine“, „unser größtes Erzähltalent seit Jahren“. Als alter Mann fährt er mit seinem Wanderkino durch den Nahen Osten. Er sucht seine Nichte. Sie wurde Soldatin. „Die Kriege nehmen kein Ende.“ Dieser Mann mit dem roten Halstuch wird Cowboy genannt.

Er liebt eine Frau, die 1942 beim Massaker von Novi Sad aus einem Kino gerettet wurde. Ihr Retter war ein Mann im Wolfspelz. Er wird später die Toten zählen. Es sind beinahe mythische Gestalten, die Clemens Meyer entwirft. Manche treten unvermittelt auf und verschwinden wieder. Einige bleiben namenlos. Andere wechseln die Namen. Oft sind sie miteinander verbunden, ohne es zu wissen. Der Autor hält die Fäden mit schlafwandlerischer Sicherheit fest. Konflikte der Gegenwart bindet er ein.

Rechtsextreme Auffassungen findet Clemens Meyer in Leipzig schon Anfang der 1980er-Jahre. Junge Skinheads und alte Nazis rekrutieren Schüler für ihre Zwecke. Nach dem Mauerfall erkennen sich die „echten Rechten“ aus Ost und West, da wächst was zusammen, „deutsch, sozial, national“. Der Angriff auf ein Asylantenheim in Hoyerswerda sei nur die Generalprobe, sagen sie. Georg, mit den Eltern ausgereist in den Westen, kennt Krieg aus der Kinderzeitschrift Atze. Die Realität erfährt er in den Jugoslawienkriegen Anfang der 1990er-Jahre. Grausame Szenen zeigt Meyer kaum im Detail. Er produziert Bilder im Kopf von großer Intensität. Blut fließt durch Gullydeckel. Gefechte, Schreie, Granatendonner hört Georg unten in den Kanälen. Seine Gruppe will den kroatischen Neofaschisten beistehen. Ihr Anführer nennt sich Franko Nemo und ist wohl der Sohn des serbischen Cowboys. Sie haben sich nie gesehen. In der brennenden Bibliothek von Osijek begegnen sich Franko und die Nichte des Cowboys. Beide fanatisch und schwer verwundet. Um sie herum wirbelt angekohltes Papier aus den Büchern von Ernst Jünger, Ludwig Renn, Henri Barbusse … Was für ein Bild!

Ein großer Antikriegsroman

So muss Literatur sein: verstörend, überwältigend, mitreißend. „Die Projektoren“ ist ein großer Anti-Kriegsroman. Ein Spiegel der Zeit. Genau recherchiert und genial erfunden. Der 47-jährige Autor vereint das Beste aus seinem Werk, die disziplinierte Strenge der Erzählungen und den kraftvollen Überschwang der Romane. Als leidenschaftlicher Kinogänger arbeitet er mit den Mitteln des Films, mit Überblendung, Zeitraffer, Unschärfe, Schnitt. Als leidenschaftlicher Karl-May-Leser spielt er gekonnt mit Figuren und Motiven des Autors. Wie dieser nennt er sich einen Märchenerzähler.

In jedem Märchen steckt ein wahrer Kern. In Zwickau gab es tatsächlich eine Neonazi-Zelle, die sich Kara Ben Nemsi nannte wie der Erzähler in Mays Orient-Romanen. Meyer schickt einen Turbanträger namens Hadschi in die Stadt, wo ein Schwarzer namens Quimbo einen Waschsalon betreibt und für NSU-Sympathisanten Uniformen näht, bestückt mit Posamenten aus Annaberg, wo es im 19. Jahrhundert ein amerikanisches Konsulat gab … Hadschi und Quimbo sind Figuren von May, das Konsulat gab es wirklich. Josip Broz Tito könnte Lex Barker empfangen haben, und er könnte auch Mays letzte Rede in Wien 1912 erlebt und Adolf Hitler fast umgefahren haben, wie es im Roman heißt. Tito war als Testfahrer für Daimler in der Stadt beschäftigt. Hitler soll bei Mays Rede über den Edelmenschen im Publikum gewesen sein. Eine feine Erfindung ist der Nachfahre des Annaberger Konsuls, der als Spion für sämtliche Geheimdienste stets gegenwärtig ist im Buch. Meyer jongliert mit wiederkehrenden Motiven wie ein Film-Cowboy im Saloon mit dem Colt. Wer beim Whisky einschläft, wacht aus Albträumen auf. Sie mischen sich in die Erinnerungen, und immer wieder fragt einer erschrocken: Wo bin ich? Wo sind wir? Wer sprach da? Selbst der Spion braucht eine Weile, „um sich in der Zeit zu finden“. Das dürfte Lesern mitunter ähnlich gehen.

Ein Buch über Männer, aber kein Heldenepos

Jedes Fragment hat eine besondere Struktur, einen eigenen Ton. Popkultur wechselt mit Melodram. An die Opfer des Massakers von Wounded Knee erinnert der Autor in 293 Sätzen. So viele Sioux-Indianer ermordete die US-Kavallerie 1890. Meyer erzählt, wie Pierre Brice, der den Häuptling Winnetou elfmal spielte, den Nachfahren Spendengeld überbringt. Darunter 30.000 DDR-Mark, zusammengetragen von Gojko Mitic, der geistesgegenwärtig die Schriftstellerin Liselotte Welskopf-Henrich von der Bordsteinkante rafft … Manchmal erzählt Meyer so verrückt, dass die Doktoren aus der Leipziger Irrenanstalt des Dr. Güntz besorgt die Stirnen runzeln würden. Ihre Konferenz über einen Patienten, der manisch Wände vollkritzelt mit Fragmenten, wird zum satirischen Kabinettstück. Mit Hintersinn schickt Clemens Meyer einen Sensibilisierungsbeauftragten in die Runde. Sein Roman verwendet Wörter passend zum Kontext. Neonazis sprechen nicht von Coloured People. Gendern wäre sowieso überflüssig. „Die Projektoren“ ist auch ein Buch über Männer. Und gewiss kein Heldenepos.

  • Clemens Meyer: Die Projektoren, S. Fischer Verlag, 1047 Seiten, 36 Euro
  • Lesung am 22. Oktober, 19.30 Uhr, Zentralbibliothek im Dresdner Kulturpalast