Von Andreas Körner
Nun endlich sieht auch Pixar schwarz. Im 23. Animationsabenteuer des US-Trickfilmstudios ist die menschliche Hauptfigur erstmals der weißen Übermacht entkommen. Mehr noch: „Soul“ handelt nahezu vollständig in einer schwarzen Community. Zumindest auf Erden, denn nach einer Viertelstunde geht es für eine quietschbunte Weile ins große Paralleluniversum der Fantasie, wo Hautfarben keine Rolle spielen, weil sich der Held einfach weigert, nach einem tödlichen Sturz das Jenseits aufzusuchen.
Joe Gardener ist Musiklehrer auf verlorenem Aushilfsposten. Vorbestimmt ist er für den Jazz, anstatt pubertierenden Posaunisten dabei zuzusehen, wie sie Smarties mit der Tröte vom Fußboden aufsaugen. Als sich ein ehemaliger Schüler auf die Inspiration Joes beruft und ihn zum Vorspiel in der Band der Jazz-Koryphäe Dorothea Williams einlädt, verschafft er ihm damit ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Da ihn die Saxofonistin sogar wirklich als Pianist will und für den gleichen Abend im Club „Half Note“ verpflichtet, ist nicht nur der Tag gerettet, sondern Joe Gardeners gesamtes Leben. Allerdings sind die Deckel von New Yorks Abwasserkanälen manchmal fahrlässig offen und scheinen auf den Rein-Fall nur zu warten.
Erlebnispark der Emotionen
Joe hat es erwischt. Seine blassblaue Seele landet irgendwo da draußen, bereit zur Rolltreppenfahrt ins Jenseits. Die einzige Alternative wäre ein Platz im Davorseits. Dort, wo die Seelen wohnen, bevor sie in menschliche Wesen fallen. Wo sie in Camps trainiert und ihnen namhafte Mentoren an die Hülle gestellt werden, die erfolgreich vermitteln sollen.
Nur an Seele 22 haben sich schon namhafte Vorbilder wie Kopernikus, Marie Antoinette, Mutter Teresa und Lincoln die Seelenzähne ausgebissen. Joe ist der nächste Kandidat, um sie zur Reise auf die Erde zu bewegen. Und, so viel darf versprochen werden, es gelingt. „Soul“ wäre aber nicht von Pixar, würde der Film hier schon mit seinen Überwältigungen auf allerhöchstem technischen und erzählerischen Niveau am Ende sein. Dem Sujet angemessen, gehört in besonderem Maße diesmal auch die Musik, komponiert von Atticus Ross und Trent Reznor, dazu, als geschlossener Soundtrack auf CD eine dringende Empfehlung.
25 Jahre nach „Toy Story“ und nach verdienten Erfolgen wie „Die Monster AG“, „Findet Nemo“, „Cars“ und „Alles steht Kopf“ gleicht „Soul“ wieder einem grandiosen Erlebnispark der Emotionen. Einer, der die Erwachsenen zunächst zu bevorteilen scheint, weil sie um den Jazz als Kulturgut wissen und die Referenzen aus Sport, Politik, Kunst und Gesellschaft in Dialogen und Bildern dechiffrieren könn(t)en. Doch Pixar, hier in Regie von Pete Docter, bedeutet eben Fallenlassen und Staunen. Kinder können das super. Deshalb ist auch „Soul“ ein Familienfilm. Schließlich spielt noch eine Katze mit.
Eine Frau macht den Männern Beine
Ma Rainey war bereits zu Lebzeiten die „Mutter des Blues“. Sie fühlte sich geehrt und gewürdigt und scherte sich nicht viel um die nahezu gleichaltrige „Kaiserin“ Bessie Smith. Die Musikwelt nennt beide bis heute in einem Atemzug. In Ma Raineys Bands spielten Coleman Hawkins und Louis Armstrong, an ihren Lippen hingen speziell in den Jahren ab 1920 männliche und weibliche Fans in verrauchten und verruchten Clubs, Abschleppschuppen und Cafés. Ma Rainey war wuchtig von Statur, wutig, stolz und mächtig. Wer an ihre Nase wollte, um darauf zu tanzen, musste früh aufstehen. Ob er schwarz war oder weiß, Musikerkollege oder Studiobetreiber, Plattenboss, Manager oder Polizist, spielte dabei keine Rolle. Starke Frau. Jetzt gibt es einen starken Film über sie.
Als Theaterstück wurde „Ma Rainey’s Black Bottom Blues“ 1984 uraufgeführt. Für Netflix rafft Regisseur George C. Wolfe die Handlung zeitlich auf einen einzigen Tag, örtlich fast durchgängig auf Räume in einem Aufnahmestudio und personell auf einen kleinen Kreis und damit auf Dialoge und Duelle. Ma Rainey, gespielt von der furiosen Violetta Davis, ist ganz Diva, als sie einige neue Songs einspielen soll. Ohne
Coke, eiskalt bitteschön, geht nichts, sie treibt Männer an, bringt ihre Entourage in Stellung, vor allem singt sie sich die Seele aus dem Leib. Als es in ihrer Band zu rumoren beginnt, weil der junge Trompeter Leevee (Chadwick Boseman in seiner letzten Rolle vor seinem Krebstod mit 43) wildere Arrangements durchsetzen will, artet die Szenerie zur vehementen Abrechnung mit schwarzen Allgegenwärtigkeiten aus.
Dennoch ist es vor allem ein packender Musikfilm für Liebhaber von Jazz und Blues. Und indirekt hat Ma Rainey wohl auch für Joe „Soul“ Gardener viel getan.
„Soul“ ist streambar auf Disney +, „Ma Rainey’s Black Bottom Blues“ auf Netflix