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Die Spur der Verwerfungen im Osten

Der junge Schriftsteller Lukas Rietzschel erhielt den Sächsischen Literaturpreis an einem ganz besonderen Ort.

Von Karin Großmann
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Lukas Rietzschel stammt aus Räckelwitz und lebt in Görlitz. 2023 ist er Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles.
Lukas Rietzschel stammt aus Räckelwitz und lebt in Görlitz. 2023 ist er Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles. © Martin Schneider

Es kommt nicht oft vor, dass ein Oberbürgermeister zur Auszeichnung eines Literaten erscheint. Dafür hat er seine Leute. Die überbringen seine Grüße und sein Bedauern, dass er gerade an diesem Tag leider … Nicht so in Görlitz. Am Donnerstagabend gratulierte OB Octavian Ursu mit spürbarer Freude dem 28-jährigen Schriftsteller Lukas Rietzschel zum Sächsischen Literaturpreis – und hob besonders hervor, dass sich dieser in aktuelle Debatten einmischt. Dabei gehören beide nicht derselben Partei an. Ursu kam 2019 für die CDU ins Amt. Rietzschel spielt im Ortsverein der SPD mit. Sie dürften aber manches gemeinsam haben.

Neben den Sorgen gehört dazu etwa der Stolz auf die wieder hergestellte Synagoge der Stadt. Sie brannte in der Pogromnacht 1938, sie verfiel in der DDR-Zeit, und sie ist nun ein Kulturzentrum, ein golden funkelndes Prachtstück, das kaum noch etwas ahnen lässt von der schrundigen Vergangenheit. Es sollten viel mehr Menschen erfahren, was Görlitz für großartige Bauten hat, sagte Lukas Rietzschel. Er hatte die Synagoge als Ort für die Feier vorgeschlagen. Der Literaturpreis wird zumeist in der Heimatstadt der Geehrten überreicht. Er ist mit 10.000 Euro ausgestattet. Welcher Schriftsteller könnte das Geld nicht gut gebrauchen?

Familiengeschichte von Verlierern und Rechtsradikalen

Rietzschel nimmt es aber auch als willkommene Bestätigung. Er fühle sich manchmal als Hochstapler, sagte er. Dann zweifle er beim Schreiben, dass seine Texte irgendwas taugten, und hoffe, dass niemand ihm auf die Schliche komme. Seine Leser sehen das anders. Gleich der erste Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ erregte 2018 Aufmerksamkeit weit über die Region hinaus: eine brisante Familiengeschichte von Wendeverlierern und Rechtsradikalen. Die Oberlausitz liefert die Kulisse. Nicht Provinz, nicht Hinterland, vielmehr trächtiger literarischer Boden.

Mit dem Buch kam ein zupackender Ton in die deutschsprachige Literatur. Der Stoff wurde für kinotauglich befunden und gelangte auf einige Theaterbühnen. Im Auftrag des Leipziger Schauspiels verfasste Rietzschel das Stück „Widerstand“. Es wird nächstes Jahr am Bautzener Theater aufgeführt und setzt die kritische Auseinandersetzung mit den Verwerfungen im Osten fort. Für die Risse und Brüche in der Gesellschaft hat der Autor einen besonderen Nerv, heißt es in der Begründung der Jury zum Sächsischen Literaturpreis. Er wird seit 2012 alle zwei Jahre vom Sächsischen Literaturrat vergeben und finanziert vom Sächsischen Kulturministerium.

Die 1989 den Boden unter den Füßen verloren haben

Rietzschel mache „die langfristigen Folgen des tiefgreifenden Wandels nicht nur im Osten Deutschlands und nicht nur in den ländlichen Regionen für die Menschen bewusst“, sagte Ministerin Barbara Klepsch in Görlitz. Der Journalist Jan Wiele von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verwies auf einen anderen Aspekt: das Hintergründige in den Texten. Diese Mischung aus realistischer Bestandsaufnahme und feiner Ironie unterscheide Rietzschel von vielen anderen Autoren der jüngeren Generationen. Und malen kann der Görlitzer auch noch. Kürzlich hatte er seine erste Ausstellung, das Titelbild zu seinem zweiten Roman „Raumfahrer“ hat er selbst gestaltet. Kein Zufall also, dass der Maler Georg Baselitz in diesem Buch eine Rolle spielt.

Die jüngste Vergangenheit wird mit Verwerfungen der Gegenwart verbunden. Menschen, die mit dem politischen Umbruch ’89 den Boden unter den Füßen verloren haben, hängen wie Raumfahrer in der Luft oder wie manche Figuren in den Gemälden von Baselitz. Diesen zerschrammten Seelen fehlt die Zuversicht und vielleicht auch das, was Lukas Rietzschel in seiner Dankrede als Vertrauensvorschuss bezeichnete: Seine Eltern, sein Literaturagent, seine Lektoren, die Leute vom Theater, alle hätten das Vertrauen in ihn gesetzt, dass er etwas leisten könne. Das dürfte Octavian Ursu ähnlich sehen. Auch Bürgermeister kommen mit einem Vertrauensvorschuss ins Amt.

Unsere Autorin Karin Großmann ist Juryvorsitzende des Sächsischen Literaturpreises.