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Dresdens Theatermacher des Neuanfangs: Ex-Intendant Dieter Görne ist tot

Als Chefdramaturg und Intendant eröffnete Dieter Görne dem Dresdner Staatsschauspiel 1990 neue Wege. Nun ist er im Alter von 86 Jahren gestorben.

Von Karin Großmann
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Dieter Görne 2011 an seinem 75. Geburtstag in seiner Wohnung in Kleinzschachwitz.
Dieter Görne 2011 an seinem 75. Geburtstag in seiner Wohnung in Kleinzschachwitz. © Foto: André Wirsig

Es war eine fragwürdige Aktion: Eigenhändig und hochrot vor Zorn holte Dieter Görne einige Studenten aus dem Parkett und setzte sie vor die Tür. Sie hatten lautstark gegen die Politik von Willy Brandt protestiert, als dieser im Schauspielhaus eine der ersten Dresdner Reden hielt. Das war im Jahr 1992. Görne war noch nicht lange Intendant. Er sorgte für Ruhe an diesem Vormittag. Das tat er sonst nur hinter den Kulissen. Ein belesener Feingeist, ein besonnener Taktiker, ein kluger Ermöglicher. Eine Vaterfigur.

Die herausragende Position des Dresdner Staatsschauspiels in der deutschen Theaterlandschaft der Achtziger- und Neunzigerjahre ist auch seinem Wirken zu danken. Er wurde nach seinem Ausscheiden 2001 zum Ehrenmitglied des Hauses ernannt. Nach Angaben des Theaters starb Dieter Görne in der Nacht zum Mittwoch im Alter von 86 Jahren. „Wir trauern um einen großen Theaterleiter und besonderen Menschen“, heißt es im Nachruf des jetzigen Intendanten Joachim Klement.

Ein lebenslanger Bewahrer der deutschen Klassik

Der Theatermacher Görne stammte aus Heidenau. Er studierte in Leipzig Germanistik und Kunstgeschichte, unter anderem bei den berühmten Philosophen Ernst Bloch und Hans Mayer. Erste Engagements als Dramaturg führten ihn an die Bühnen von Anklam, Plauen und Weimar. In der Stadt an der Ilm leitete er von 1968 bis 1974 eine Arbeitsgruppe, die alle an Goethe gerichteten Briefe erschloss und edierte. 1971 promovierte er in Jena.

Zeitlebens verstand sich Görne als Bewahrer der deutschen Klassik. Das Bewahren schloss für ihn die Erneuerung ein, den Mut zum Unkonventionellen, die spielerische Provokation. Goethes Spruch über dem Eingang des Schauspielhauses schien wie für ihn erfunden zu sein: „Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefasstes Neue“.

Keine „lobhudelnde Bestätigung des Bestehenden“ mehr

Schon als Chefdramaturg am Karl-Marx-Städter Schauspielhaus hatte sich Görne einen Namen gemacht. Die Jahre, die er dort mit dem Intendanten Gerhard Meyer verbrachte, rechnete er später zu seinen schönsten. Beide verband nicht nur die Lust am Theater, sondern auch eine freundliche Ironie. Als Dieter Görne 1984 nach Dresden wechselte, folgten ihm einige Schauspieler nach. Es begann das, was er selbst als „Theater in der Zeitenwende“ bezeichnete.

An die Stelle der „lobhudelnden Bestätigung des Bestehenden“ sollte die kritische Analyse treten. Gemeinsam mit dem Intendanten Gerhard Wolfram und mit Regisseuren wie Horst Schönemann und Klaus Dieter Kirst arbeitete der Chefdramaturg Dieter Görne an einem Spielplan, „der politisches Eingreifen ermöglichte“ – misstrauisch beobachtet von den Machthabern aus Stadt und Bezirk.

Stücke waren erlaubt, wurden aber trotzdem nicht gespielt

Das Dresdner Publikum habe sich in diesem komplizierten Widerspiel der Kräfte als unentbehrlicher Partner erwiesen, notierte Görne im Blick zurück. „Hoch sensibilisiert wusste es zwischen den Zeilen zu hören, Anspielungen, auch versteckte, zu entdecken und poetisch-anzügliche Bilder zu entschlüsseln.“ Stücke kamen auf die Bühne, die in der DDR zwar nicht verboten waren, aber trotzdem nicht aufgeführt wurden.

Samuel Becketts „Warten auf Godot“ gehörte dazu oder „Die Zofen“ von Jean Genet oder Heiner Müllers „Umsiedlerin“. Aus anderen Gründen sorgte Wolfgang Engels Inszenierung von „Maria Stuart“ für Aufregung oder seine drei Abende füllende legendäre „Faust“-Inszenierung. Die Messlatte des Möglichen ständig neu zu prüfen: Das war der Anspruch, den Görne verteidigte.

Das Wort Sozialismus neu definieren

Auch deshalb konnte im März 1989 im Kleinen Haus das Stück „Die Ritter der Tafelrunde“ von Christoph Hein uraufgeführt werden. Alle Zeichen standen auf Umbruch. Oftmals konnte das, was auf der Bühne verhandelt wurde, in Rezensionen dieser Zeitung nicht mal benannt werden. Das Theater mischte sich auch direkt in die Gesellschaft ein.

In der Abendvorstellung des 6. Oktober 1989 verlasen die Schauspieler im Kleinen Haus erstmals eine Resolution. Sie forderten ein Recht auf Information, selbstständiges Denken und Reisefreiheit. In ihrem Text heißt es: „Wir haben die Pflicht, das Wort Sozialismus so zu definieren, dass dieser Begriff wieder ein annehmbares Lebensideal für unser Volk wird.“

"Er hat er künstlerische Prozesse begleitet und geschützt"

Als Intendant schrieb Dieter Görne von 1990 bis 2001 an der neuen Theatergeschichte mit. Er begleitete den schwierigen Prozess der Selbstfindung. Plötzlich schien es nicht mehr um politischen Protest zu gehen, sondern um ästhetische Auseinandersetzung. Er formte ein junges Leitungsteam zu dem Hasko Weber, Heike Müller-Merten und Tobias Wellemeyer gehörten.

„Mit seiner Bildung und intellektuellen Präsenz hat er künstlerische Prozesse begleitet und geschützt“, sagt der jetzige Chefdramaturg Jörg Bochow. „Bis in die letzten Monate hinein hat er Anteil an der Arbeit des Staatsschauspiels genommen, sie aufmerksam, kritisch und mit viel Empathie verfolgt.“ Als Gründungsmitglied der Sächsischen Akademie der Künste gab Dieter Görne seine Erfahrung und seine Leidenschaft fürs Theater weiter.