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Eine Dresdner Liebe in dunklen Zeiten

Ein Paar in NS- und SED-Zeiten: Die jüdische Historikerin Nora Goldenbogen hat ein Buch über die leidvolle Geschichte ihrer Eltern geschrieben.

Von Christina Wittig-Tausch
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Nora Goldenbogen in der Synagoge in Dresden. Auch im Ruhestand befasst sie sich intensiv mit jüdischem Leben, mit Geschichte und Antisemitismus.
Nora Goldenbogen in der Synagoge in Dresden. Auch im Ruhestand befasst sie sich intensiv mit jüdischem Leben, mit Geschichte und Antisemitismus. © kairospress

Den 5. Juni 1946 vergaß Annette Tulatz nie mehr. Denn an diesem Tag erhielt sie in Bukarest einen Brief aus Dresden, von ihrem Mann Hellmut. Es war das erste Lebenszeichen nach drei Jahren. Der Brief eines Menschen, von dem sie lange Zeit nicht wusste, ob er Krieg und Konzentrationslager überstanden hatte. Er wiederum wusste beim Schreiben nicht, ob sie Krieg und Judenverfolgung überlebt hatte. „Meine liebe kleine Frau, solltest Du diese Zeilen erhalten, so tue bitte alles, damit auch ich von Dir ein Lebenszeichen bekomme“, schrieb Hellmut Tulatz im Sommer 1945.

Sie entgegnete am 6. Juni 1946: „Seit gestern bin ich ein neuer Mensch. Jetzt wollen wir an die Zukunft denken und wie wir es machen können, dass wir uns so schnell als möglich wiedersehen.“ So beginnt es, das neue Buch der Dresdner Historikerin Nora Goldenbogen. Es trägt den Titel „Seit ich weiß, dass du lebst“ und erzählt vom Leben ihrer Eltern. Noch eine Familiengeschichte? Es ist modern seit einigen Jahren, die eigene Familiengeschichte öffentlich zu reflektieren, sei es im Roman oder in Sachbüchern. „Ich hatte dennoch das Gefühl, dass ich dieses Buch schreiben muss“, sagt Nora Goldenbogen.

Ausgerechnet in Paris begann die Liebe

Sie weiß: „Die Generationen, die den Krieg und die Shoa noch selbst erlebt haben, sterben. Es ist wichtig, dass solche Geschichten erzählt werden, weil kaum etwas Menschen, vor allem die Jüngeren, so bewegt und anregt wie persönliche Geschichten. Gerade die, die in der eigenen Region passiert sind.“ Die 73-jährige, Vorsitzende des Landesverbands Sachsen der jüdischen Gemeinden, hat viel geforscht und publiziert zu jüdischer Geschichte und wissenschaftliche Texte darüber geschrieben.

Nun also ein persönliches Buch, das manches über die eigene Biografie verrät. Eine neue Erfahrung für die langjährige Leiterin des jüdischen Kulturzentrums Hatikva in Dresden. Silvester 1933 lernen sich die Eltern bei einer Feier in Paris kennen. Hellmut Tulatz, Jahrgang 1909, ist Kommunist und politisch Verfolgter aus Dresden, der Deutschland nach dem Reichstagsbrand verlassen hat und nun illegal in Paris wohnt. Annette Kaiser, geboren 1906 als Kind einer jüdischen Familie im elsässischen Straßburg, hatte den wachsenden Antisemitismus in ihrer Heimatstadt Bukarest nicht mehr ertragen und war deshalb nach Frankreich gezogen.

„Es wird hier schwierig werden für Menschen wie Sie“

Weil Annette Hellmut teilweise bei sich wohnen lässt, werden beide ausgewiesen. Sie ziehen nach Dresden und versuchen, nicht aufzufallen. Das geht eine kleine Weile gut. Es gibt Fotos von Wanderausflügen in die Sächsische Schweiz, und Annette liebt es, abends auf der Brühlschen Terrasse zu sitzen. Noch ist es Juden nicht verboten, die Bänke dort zu nutzen. Aber es ist 1935, und sie wollen heiraten.

Der nationalsozialistische Staat bereitet ein Gesetz vor, das die Ehe zwischen Juden und Nichtjuden unter Strafe stellt, selbst im Ausland. Ein Standesbeamter rät Annette, Deutschland zu verlassen, „weil es schwierig werden wird für Menschen wie Sie“. Also zieht das Paar nach Bukarest und heiratet dort. Der rumänische Staat jedoch sympathisiert mit Nazi-Deutschland. In Teilen von Rumänien werden Juden verfolgt, getötet.

Wegen roter Vergangenheit und „Rassenschande“ ins KZ

Auch Annette wird für die Deportationen registriert. 1943 erhält Hellmut Vorladungen zur Gestapo in der Deutschen Gesandtschaft in Bukarest und später den Einberufungsbefehl zur deutschen Wehrmacht. Sie diskutieren, wie es weitergehen soll. Annette bleibt in Bukarest und wechselt ständig die Unterkünfte. Hellmut fährt nach Deutschland in der Annahme, dass der Krieg bald vorbei und das Dritte Reich Geschichte sein wird. Aber so ist es nicht. Wegen seiner kommunistischen Vergangenheit und der „Rassenschande“, wie die Ehe mit seiner jüdischen Frau genannt wird, kommt er ins KZ Sachsenhausen.

„Was genau er dort erlebt hat, darüber sprach er sehr ungern“, sagt Nora Goldenbogen. Als sie 18 ist, fährt der Vater mit ihr nach Sachsenhausen. Dort fängt er plötzlich an zu weinen. Die Tochter steht da, hilflos. „So kannte ich ihn nicht“, erzählt sie. Sie traut sich nicht, zu fragen. Später ist sie zu beschäftigt, mit dem Lehrerstudium, mit der eigenen, jungen Familie.

Das Ende der DDR als Verlust einer positiven Utopie

1982 sterben ihre Eltern. Erst der Vater, fünf Tage später die Mutter. Nora Goldenbogen räumt die Wohnung aus. Briefe und Fotos verschwinden in Kisten. Sie nimmt sich vor, eines Tages alles in Ruhe zu lesen. Aber das Jahr 1989 kommt und mit ihm etwas, das Nora Goldenbogen bis heute als gewaltigen Bruch empfindet. Das Ende einer Staatsform und einer Utopie, die sie positiv gesehen hatte. Der Verlust der Arbeit und die Notwendigkeit, sich neu zu orientieren. Als Ankerpunkt erwiesen sich für sie ihre jüdischen Wurzeln.

Seit den 1980er Jahren engagierte sie sich zunehmend in der Dresdner Jüdischen Gemeinde, später stand sie ihr als Vorsitzende vor. Kurz vor Corona gab sie ihre Ämter auf und begann, auf Spurensuche zu gehen. Besuchte mit der Familie Sachsenhausen und Bukarest, wo sie sogar die Gräber der Großeltern fand, Jahrzehnte versteckt unter viel Gestrüpp. Während der Lockdowns war Zeit für die Kisten aus der Wohnung der Eltern. Über das Internet suchte Nora Goldenbogen in Archiven nach weiteren Unterlagen. Sie habe vieles für sich entdeckt, sagt sie.

Beklemmende Notizen des Vaters über Sachsenhausen

Die Notizen des Vaters über Sachsenhausen etwa, die er unmittelbar nach Kriegsende anfertigte. Er beschreibt die ständigen Prügel, stundenlanges Stehen in sengender Sonne, schwere körperliche Arbeit, Entwürdigung, ständige Todesnähe. Manchmal wird ein Kasten in den Schlafraum gerollt, und zufällig ausgewählte Insassen müssen sich darüber beugen und werden mit Peitschen geschlagen. Manchmal werden welche stundenlang gequält, und alle anderen müssen zuhören. Ein Notizbuch hilft ihm, nicht Verstand und Lebenswillen zu verlieren. Er schreibt darin kleine Gedichte auf und fertigt Zeichnungen an. Vom Spitzhaus in Radebeul etwa, das er von Ausflügen von früher kennt.

Ebenso erzählenswert fand Nora Goldenbogen den Weg der Eltern zurück in das Alltagsleben. Nachdem sich die Eltern im Sommer 1946 brieflich wiedergefunden hatten, dauerte es noch Monate, bis die Mutter nach Dresden ziehen durfte. In der DDR wurden die kommunistischen Widerstandskämpfer überhöht, zugleich aber sei der Vater in die sogenannte Säuberung der SED in den frühen 50er Jahren geraten und habe seine Arbeit verloren. Später leitete er ein Warenhaus am Altmarkt.

Kein Jammern, stattdessen Entschlossenheit

Die DDR zu verlassen sei nie ein Thema gewesen für die Eltern. Was haben sie gesagt dazu, dass Sachsenhausen nach dem Krieg als sowjetisches Speziallager genutzt wurde, wie andere KZ auch? „Darüber haben wir nicht geredet“, sagt Nora Goldenbogen. Zugleich hat sie das Elternhaus als aufgeschlossen, nachdenklich, kritisch erlebt. Es sind Fragen, die bleiben. Die Stoff bieten für Diskussionen und weitere Forschungen. Ein Bestseller wird das Buch vermutlich nicht, denkt Nora Goldbogen. Aber vielleicht gehe es den Lesern wie ihr: Es berührt und ermutigt sie, mit welcher Energie die Eltern ihr Leben gestalteten, trotz des Schweren, das sie erlebt hatten.

Kein Jammern, stattdessen eine Entschlossenheit, das Beste aus den Gegebenheiten zu machen. „Meine Eltern habe mir oft gesagt: Tu, was du tun kannst.“ Dieser Satz sei ihr heute noch wichtig, im Zeitalter der Krisen, sagt Nora Goldenbogen. Und er führe dazu, dass sie sich auch im Rentenalter intensiv befasst mit jüdischer Geschichte und mit Antisemitismus. Und sich immer wieder öffentlich zu Wort meldet.

Am Donnerstag (1. Dezember) stellt Nora Goldenbogen ihr Buch 19.30 Uhr in der Zentralbibliothek Dresden vor. Eintritt ist frei. „Seit ich weiß, dass du lebst“ ist bei Hentrich & Hentrich erschienen und kostet 24 Euro.