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Gibt es eine „Cancel Culture“?

Wegen Dieter Nuhr und Lisa Eckhart breitete sich dieser Begriff 2020 in Deutschland aus. Aber existiert hier wirklich eine solche Boykottkultur?

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Kabarettist und Comedian Dieter Nuhr hatte im Herbst ein Video für eine Wissenschaftskampagne verfasst, in dem er den Klimaschützer-Appell „Folgt der Wissenschaft!“ kritisierte. Es löste einen Shitstorm aus.
Kabarettist und Comedian Dieter Nuhr hatte im Herbst ein Video für eine Wissenschaftskampagne verfasst, in dem er den Klimaschützer-Appell „Folgt der Wissenschaft!“ kritisierte. Es löste einen Shitstorm aus. © Marcel Kusch/dpa

Von Renate Kortheuer-Schüring

Die Ausladung der sperrigen Kabarettistin Lisa Eckhart von einem Hamburger Literaturfestival war im August der Höhepunkt einer schon länger schwelenden Debatte: Vereinzelte Wissenschaftler, Publizisten und Künstler in Deutschland und anderen westlichen Demokratien klagen seit einigen Jahren über einen angeblich enger werdenden Meinungskorridor, über Repressalien und Anpassungsdruck. Genauso heftig erklingt Kritik an diesen Vorwürfen. Strittig ist, ob es eine „Cancel Culture“ überhaupt gibt, ob missliebige Stimmen wirklich stummgeschaltet und Kritik mit Auftrittsverboten und Jobverlust bestraft wird. Oder ob „Cancel Culture“ nur ein Kampfbegriff der Rechten ist.

„Es gibt ein extrem verengtes Denken, das unbequeme Meinungen verstärkt als rechts labelt“, sagt die Philosophin Svenja Flaßpöhler, die selbst nach einem kritischen Buch zu #MeToo als „rechtsreaktionär“ beschimpft wurde. Sie macht sich Sorgen um das geistige Klima. Ein Stummschalten aber habe sie nicht erlebt. Auch Kabarettist Dieter Nuhr könne weiter auftreten, der schwer angefeindete Professor Jörg Baberowski sei sicher ein Grenzfall.

Großes Kränkungspotenzial

Nuhr hatte im Herbst ein Video für eine Wissenschaftskampagne verfasst, in dem er den Klimaschützer-Appell „Folgt der Wissenschaft!“ kritisierte. Es löste einen Shitstorm aus, seine Videobotschaft wurde daraufhin von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zeitweilig gelöscht. Baberowski, dem linke Studenten Geschichtsfälschung, Rassismus und Rechtsradikalismus vorwerfen, wird zu Talkshows nicht mehr eingeladen. Auftritte von ihm begleiten jeweils heftige Proteste.

Laut einer Untersuchung des Allensbach-Instituts sind zwei Drittel der Deutschen überzeugt, dass sie bei bestimmten Themen „aufpassen“ müssen, was sie sagen. Im Auftrag der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung und des Deutschen Hochschulverbandes befragte das Institut für eine andere Untersuchung gut 1.000 Wissenschaftler: Jeder Fünfte gab eine kritische Beurteilung zur Wissenschaftsfreiheit ab. In den Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften fühlte sich sogar jeder Dritte durch Vorgaben zur politischen Korrektheit eingeschränkt. Der Frankfurter Ethnologin Susanne Schröter zufolge muss, wer dem „Mainstream“ nicht folgt, Konsequenzen für die Uni-Karriere fürchten, etwa die Ablehnung von Forschungsanträgen.

Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart wurde von einem Hamburger Literaturfestival ausgeladen.
Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart wurde von einem Hamburger Literaturfestival ausgeladen. © Daniel Karmann/dpa

Der Heidelberger Theologe Philipp Stoellger schätzt das Problem der „Cancel Culture“ im akademischen Bereich dagegen als „noch überschaubar“ ein: Es gebe „Umbrüche in der Sagbarkeit“. Was sagbar sei, verschiebe sich mit den Generationen. Doch treibe der Trend manchmal skurrile Blüten. So warf eine Studentin Stoellger Rassismus vor, weil seine Lektüreliste zur Vorlesung keine „Transgender- und Black Voices“ enthielt. Er sei auch schon als „sexistisches Schwein“ beschimpft worden, als er einer Studentin die Tür aufgehalten hatte, so der Professor: „Das Kränkungspotenzial ist oft zu groß. Und die gefühlte Kränkung wird dann benutzt, um die eigene Aggression zu legitimieren.“ Dann kippe der Diskurs, und das Problem dahinter werde „unverhandelbar“.

Flaßpöhler kritisiert ein „ideologisches Denken“ an den Hochschulen, das die eigenen Annahmen nicht hinterfrage: „Wer nicht Texte etwa mit Gender-Sternchen versieht, wird als antifeministisch oder gar rechtsreaktionär ausgewiesen. Gerade die Universitäten sollten aber Orte sein, wo differenziert gedacht und Sprache genau daraufhin angeschaut werden sollte, was sie leisten kann.“

Wie der Diskurs sich zuungunsten von Freiheit und offenem Streit zu verändern droht, zeigt eine Ende Oktober publizierte Studie der Uni Frankfurt: Linksgerichtete Studenten sind demnach „weniger bereit, umstrittene Standpunkte zu Themen wie Gender, Einwanderung oder sexuelle und ethnische Minderheiten zu tolerieren. Studierende rechts der Mitte neigen eher dazu, sich selbst zu zensieren“.

Raus aus ideologischer Verhärtung

Es gebe „keine Sprachverbote“, sondern nur „Veränderungen in der Debattenkultur“, die durch die Rede von Zensur und Verboten abgewehrt würden, erklärte indes die Gender-Professorin Andrea Geier. Ähnlich argumentierte der Soziologe Floris Biskamp: An deutschen Universitäten gebe es „keinen Hinweis auf eine virulente Kultur des Absagens, bei der missliebige Meinungen mundtot gemacht würden“. Das Reden von „Meinungsdiktatur, Diskurswächtern und Cancel Culture“ gebe denen, die davon sprechen, die Möglichkeit, sich als Opfer linker Hegemonie zu inszenieren.

Svenja Flaßpöhler kritisiert dagegen einen „vorauseilenden Gehorsam“ auch in Institutionen und im Rundfunk. In den Redaktionen gebe es Anpassungsdruck, sagt die Chefredakteurin des Philosophie-Magazins. Sensibilisierung sei zwar ein gesellschaftlicher Fortschritt und kein „Firlefanz“, betont sie: „Da muss man berührbar bleiben.“ Problematisch sei aber, dass man schon als „rechts“ gelte, wenn man sachlich gegen das Gendern argumentiere.

„Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht darauf, den Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen“, schrieb George Orwell 1945 zu seiner Fabel „Animal Farm“. Im Jahr 2020/21 klingt das überaus aktuell. „Die USA und Großbritannien führen uns vor, was passieren kann; es sind warnende Beispiele“, sagt Flaßpöhler zu umstrittenen Kündigungen von Journalisten in New York und einem Lehrer in Eton, die als nicht mehr tragbar galten: „Es ist notwendig, aus ideologischen Verhärtungen herauszukommen.“ (epd)