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"Ich war großartig"

Der Maler Strawalde ist einer der großen Künstler aus der DDR. Nun wird er 90 und in seiner sächsischen Heimat gewürdigt. Eine inspirierende Begegnung.

Von Birgit Grimm
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Wenn der Maler Strawalde, der mit bürgerlichem Namen Jürgen Böttcher heißt, aus seinem Leben erzählt, wird Vergangenes lebendig.
Wenn der Maler Strawalde, der mit bürgerlichem Namen Jürgen Böttcher heißt, aus seinem Leben erzählt, wird Vergangenes lebendig. © kairospress

Schreiben Sie doch einfach: Der Angeber wird 90! – Der Mann, der diesen Vorschlag macht, ist einer der bedeutendsten Künstler aus dem Osten Deutschlands. Seine Bilder signiert er seit 1975 mit „Strawalde“ – nach dem Dorf Strahwalde in der Oberlausitz, wo er aufwuchs. Filmemacher ist er auch, als solcher trägt er aber seinen bürgerlichen Namen Jürgen Böttcher. Wir wollten ihn vor seinem 90. Geburtstag in seiner Atelierwohnung in Berlin besuchen, aber es ging ihm nicht so gut.

Dass er dann, wenige Wochen später, selbst nach Dresden kam, war eine so feine Überraschung wie die Ausstellung, die das Leonhardimuseum ihm einrichtete. Zeichnungen sind dort zu sehen, siebzig Arbeiten aus siebzig Schaffensjahren. Die jüngsten Blätter kamen erst kurz vor der Eröffnung im Museum an, denn Strawalde zeichnet nach wie vor. Das älteste Blatt von 1951 zeigt die Hochschule für Bildende Künste Dresden, an der der junge Böttcher studierte und deren heutiger Rektor sein Freund Matthias Flügge ist. Sie kennen sich seit vier Jahrzehnten und haben gemeinsam diese Ausstellung vorbereitet.

Tusche auf Papier: Diese Zeichnung entstand 1960.
Tusche auf Papier: Diese Zeichnung entstand 1960. © PHOTO-DESIGN Herbert Boswan

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war Jürgen Böttcher einer der Studenten, die die Dresdner Kunsthochschule enttrümmerten und die Ateliers auf der Brühlschen Terrasse nutzbar machten, ehe sie sich an die Staffelei stellen konnten. Böttcher hat es schon als jungem Mann nicht an Selbstbewusstsein gemangelt. Er wusste, was er konnte. Und was er wollte, das wusste er auch.

Niemand hat ihm sein Talent ausreden wollen, im Gegenteil. Er hat Geld verdient, seiner Familie geholfen, indem er mit Bleistift Porträts zeichnete, auch von Stalin, Clara Zetkin, den Geschwistern Scholl: „Es war so deutlich, wie begabt ich war. Ich war auch ein guter Fußballer und ich war bekannt, weil ich unterernährt war. Es war so, als wäre ich ein kleiner Leonardo da Vinci oder so. Schon mit 16, 17 war ich der große Künstler.“ Das klingt ein wenig ironisch und auch ein wenig selbstverliebt. Aber freilich hat er recht.

Aus der Kindheit kommen "dunklen Untermalungen“

Stimme hat er auch, und so sang er einst bei den Thomanern in Leipzig vor: „Sie ahnen es: Ich war großartig!“. Genommen haben sie ihn nicht, weil er nicht Klavierspielen konnte. Aber nachdem er die Knaben im Konzert erlebt hatte, wollte er auch nicht mehr: „Die sahen alle aus wie kleine Geheimräte, da wollte ich nicht dazugehören“. Und überhaupt schmettert er inzwischen viel lieber Brecht, auch ungefragt vor Publikum. Dessen Songs passen gut zu seiner Haltung und er liebt sie so sehr, dass Frau und Sohn ihn vor öffentlichen Auftritten wie Filmvorführungen oder Ausstellungseröffnungen immer bitten, doch lieber nicht zu singen.

Familie Böttcher, Sohn Jürgen kam am 8. Juli 1931 in Frankenberg an der Zschopau zur Welt, landete 1938 in dem Dorf Strahwalde in der Oberlausitz, das heute zu Herrnhut gehört. Dort und in Löbau ging er zur Schule. Sein großer Bruder wurde im Februar 1944 bei einer Übung versehentlich mit einer Platzpatrone erschossen. „Er war der erste Tote, den ich sah. Er hatte mir alles beigebracht: Äpfel klauen, Kartoffeln rösten – ich weiß nicht, ob ich mich mit einem kleinen Bruder so abgegeben hätte.“ Aus der Kindheit, sagt Strawalde, kommen diese „dunklen Untermalungen“ bei ihm.

Der Bruder ist in Strahwalde in einem Doppelgrab beerdigt. Als das Grab aufgelassen werden sollte, legte Strawalde widerborstig fest: „Dann sterbe ich eben nicht! Ich habe immer gesagt: Ich will zu meinem Bruder!“ Der ehemalige Bürgermeister von Strahwalde, Rainer Schmidt, setzte sich für ihn ein. Das Grab blieb, und Strawalde bekam 2019 im Zinzendorfschloss im Herrnhuter Ortsteil Berthelsdorf zwei Räume für seine Kunst – auf Dauer. „Der Schmidt Rainer hat entdeckt, dass ich den Namen Strahwalde ganz schön weit trage“, sagt der Maler. Nun hängen in der Heimat wichtige Arbeiten von ihm, „Herzensstücke, wie das schönste Porträt von meiner Mutter“. Auch ein Porträt von Erika Dobslaff ist zu sehen – „Dobsy, meine Liebste und die Mutter meines Sohnes“. Dass Familie und Werk in seiner alten Heimat, bei seinen „Wurzelböden“ so wunderbar vereint sind, das berührt den nun 90-Jährigen sehr.

Drei Jahrzehnte Dokumentarfilme für die Defa

Den besten Überblick über Strawaldes Malerei bietet derzeit die Ostsächsische Kunsthalle in Pulsnitz. Da sind großformatige Gemälde zu sehen und übermalte Rolltafeln aus dem Schulunterricht. Eine Kamera steht im Raum, die darauf verweist, dass Jürgen Böttcher und auch einen Spielfilm gedreht hat. Der wurde verboten, wie auch sein Dokumentarfilm „Drei von vielen“. Darin erzählt Böttcher 1961 von drei Arbeitern, die Kunstunterricht nehmen und sich regelmäßig treffen, um zu diskutieren: Peter Graf, Peter Herrmann und Peter Makolies verdienten damals ihren Lebensunterhalt als Kraftfahrer, Chemigraph und Steinbildhauer. Heute sind sie renommierte Künstler, Graf und Hermann malen, Makolies ist Bildhauer.

Keiner von ihnen hat Kunst studiert. Bei Jürgen Böttcher im Volkshochschulkurs „Von der Linie zum Fleck“ – was für ein aufsässiges Thema! – wurden Herrmann und Makolies bestens angeregt. Auch der viel jüngere, aber bereits verstorbene Ralf Winkler, der sich später A. R. Penck nannte, nahm an dem Kurs teil. Peter Graf allerdings nicht: „Ich habe den Jürgen erst später kennengelernt“, erzählt er. Wir waren ja als Künstler völlig isoliert, keiner hat uns akzeptiert. Oft haben wir uns getroffen. Der Jürgen hat uns den Weg gewiesen, als wir jung waren, für vieles Interesse geweckt, was wir ohne ihn nicht entdeckt hätten. Wir haben über Picasso geredet, über Malerei und über Jazz. Das hat vieles in mir geöffnet.“ Was Graf seinem Freund nie vergessen wird: „Ich wurde erst mit 34 Jahren zum Armeedienst eingezogen und war in Frankenberg stationiert. Jürgen kam 1971 mit ein paar Filmrollen angereist und hat in dem Bataillon einen Abend mit seinen Filmen gemacht.“ Der verbotene Streifen „Drei von vielen“ war natürlich nicht dabei. „Den habe ich erst 1988 gesehen“, erinnert sich der 84-jährige Graf.

Übermalungen und Collagen finden sich häufig in Strawaldes Werk. Hier ein Blatt ohne Titel aus dem Jahr 2015.
Übermalungen und Collagen finden sich häufig in Strawaldes Werk. Hier ein Blatt ohne Titel aus dem Jahr 2015. © PHOTO-DESIGN Herbert Boswan

Böttcher hat von 1955 bis 1960 Regie in Potsdam Babelsberg studiert und anschließend bis 1991 im Defa-Studio großartige Filme gedreht, die das Leben in der DDR zeigten. Immer auf Kante genäht, nicht anbiedernd, aber auch nicht vordergründig auf Krawall aus. Es sind wunderbare Porträts von Menschen, Filme voller Respekt vor deren schwerer Arbeit und mit Sympathie für ein gutes Leben: „Ofenbauer“, „Rangierer“, „Wäscherinnen“, „Martha“, „Barfuß und ohne Hut“ und andere mehr. In „Der Sekretär“ porträtiert er einen sympathischen Mann, der sich als Parteisekretär für seine Kolleginnen in den Bunawerken einsetzt, individuelle Lösungen findet, wo andere keine Probleme sehen wollen.

Dieser Film ist kein vordergründiges Loblied auf die SED, die immer recht hatte. „Diesen Film wollte 1967 keiner machen“, erzählt Böttcher. Er hatte keine Wahl. „Es war als Strafe gedacht“, sagt er. Im Jahr zuvor war sein erster Spielfilm verboten worden, noch vor dem Rohschnitt. Böttcher hatte nicht im Studio, sondern in den Straßen von Berlin gefilmt. War das zu modern? Waren die Jugendlichen, die Motorrad fuhren, nach der Arbeit draußen herumlungerten, im Urlaub aus Langeweile in ihren Betrieb und am Samstag tanzen gingen, schon zu aufsässig?

Kunstmesse Art Cologne wollte ihn nicht

Rolf Römer und Monika Hildebrand spielten die Hauptrollen in „Jahrgang 45“, ein junges Paar, in dessen Ehe es heftig kriselt. Die Musik lieferten der Barockkomponist Henry Purcell und Böttchers Freund Wolf Biermann. In den 1980er-Jahren drehte Böttcher künstlerische Experimentalfilme, besuchte den Dresdner Konstruktivisten Hermann Glöckner in dessen Atelier im Künstlerhaus. 1990 filmte er die Verwandlung der Berliner Mauer: „Ich prahle ungern: Aber dafür habe ich den Europäischen Filmpreis bekommen.“

In all den Defa-Jahren hat er auch gemalt und vor allem viel gezeichnet. Dass ihn 2000 und 2002 der Zulassungsausschuss der Kunstmesse Art Cologne ausjurierte mit der Begründung, er habe als Maler in der DDR keine Bedeutung gehabt, verletzt ihn noch immer, und er kommentiert es bitter-ironisch: „Das sind wunderhübsche Lebenserfahrungen für einen Alten. Diese Menschen kennen mich natürlich genau. Die waren nie bei mir und haben mich auch nicht zu sich bestellt.“

„Wer weiß, was der liebe Gott mit uns vorhat“

Gemälde wie „Mutter mit Kind“, das vom Dresdner Albertinum bis vor Kurzem in der Ausstellung „Eine Million rote Rosen für Angela Davis“ gezeigt wurde, oder „Die Beweinung“, das in der Berliner Nationalgalerie hängt, gehören zum Besten, was in den 50er-Jahren in der DDR an Malerei entstand. Er war auch in der SED, und als Maler war er immer aktiv. Die Atelierwohnung ist voll mit seinen Arbeiten. Aber seine Bilder, weder all die schönen Annas und Dobsys noch seine Selbstporträts, passten ins sozialistisch-realistische Kunstsystem, geschweige denn die Übermalungen. Ausgestellt wurden seine Bilder erst in den 1980er-Jahren. Nachdem das Leonhardimuseum 1978 eine große Einzelschau gezeigt hatte, trauten sich auch die kleinen Galerien in Dresden, Berlin, Karl-Marx-Stadt oder Weimar.

Noch einmal wird im Gespräch seine Mutter lebendig: Immer wenn es besonders schwierig wurde, half sie sich mit dem Spruch: „Wer weiß, was der liebe Gott mit uns vorhat.“ Sie habe das immer so geheimnisvoll gesagt, als müsse das Schlimmste auch etwas Gutes haben. „Wie eine Gottesprüfung. Wenn man die besteht, nicht kaputtgeht und kein übler Mensch wird, dann ist das in Ordnung. Ich habe gemerkt, dass ich offensichtlich so besonders bin, dass Gott mit mir viel vorhat. Und wer weiß, vielleicht werde ich später einmal im Albertinum ausgestellt.“

Arbeiten von Strawalde sind in Dresden im Leonhardimuseum (bis 19. September) und in der Galerie Himmel (ab 24. Juli) zu sehen, außerdem in der Östsächsischen Kunsthalle in Pulsnitz (bis 11. Juli; Do, Fr, So 14 – 17 Uhr); im Zinzendorfschloss in Herrnhut/OT Berthelsdorf.