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Zwischen USA-Blues und DDR-Brausepulver

Viel Nostalgie und noch mehr Energie: Die lebende Gitarrenlegende Jürgen Kerth liefert in Dresden eine grandiose vierstündige Show.

Von Tom Vörös
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Jürgen Kerth zu Beginn allein auf der Bühne. Für das Vorprogramm hatte er sich gleich selbst engagiert.
Jürgen Kerth zu Beginn allein auf der Bühne. Für das Vorprogramm hatte er sich gleich selbst engagiert. © kairospress

Ist er es schon? Oder die Vorgruppe? Es ist 19.30 Uhr. Von Weitem erklingen vertraute Klänge. Bis man deutlich erkennen muss: Jürgen Kerth bestreitet am Freitagabend auf dem Open-Air-Gelände des Dresdner Liveclubs Tante Ju sein eigenes Vorprogramm. Mit alten Liedern wie „I’ll Get You“ von den Beatles oder Liedern von einer Blumenwiese, die zum „Spazierengehen“ einlädt. „Heute sagt man etwas anderes dazu“, sagt Kerth.

Die Lieder spielt der Mann aus Erfurt nur kurz an und streut, passend zum Tag des DDR-Mauerbaus, Anekdoten aus verblichenen Zeiten ein. Als alleiniger Vorab-Entertainer ist Jürgen Kerth zwar längst nicht so virtuos wie an der Gitarre, doch er schafft es trotzdem, im teils DDR-erfahrenen Publikum Erinnerungen wachzurütteln. Etwa mit einer Begegnung mit einem Polizisten: „Nehmen sie die Griffel aus der Tasche!“

Auch seine Acht-Euro-Hose, „eine positive Nebenerscheinung des Kapitalismus“, wird thematisiert. Oder das Verhalten eines Musikerkollegen nach der Wende. „Thomas Stelzer hatte sich bei einem Konzert mal selbst eingeladen und wollte als Gast mit auf die Bühne, was kein Problem war. Aber hinterher wollte er Geld dafür haben.“ Jürgen Kerth ist für seinen bescheidenen Lebensstil bekannt. Aber zumindest hätte sein Sohn das Album „Made for U.S.A.“ mal auf die Internet-Plattform Spotify gestellt, „dort wo man für zehn Millionen Klicks 128 Euro bekommt.“

Zwei Spritzen fürs Gedächtnis

Ob virtuoser Entertainer oder nicht, das Eis war jedenfalls längst gebrochen und der Bühnenboden bereitet für einen singenden Gitarristen, der imstande ist, eine ganze Musik-Ära wiederzubeleben. Zunächst, passend zu den warmen Temperaturen, mit einem Hauch Exotik und dem Lied „He, junge Mutti“, aber auf Englisch. Der Bezug wird aber prompt hergestellt: „Reggae ist der Blues der Karibik.“ Und ein bisschen stolz auf sich selbst ist Jürgen Kerth auch: „Ich habe ein super Gedächtnis, seit ich zwei Spritzen bekommen habe.“

Spätestens wenn man dem Gitarrenspiel dieses rüstigen Mannes zuhört, nimmt das Augenzwinkern ein jähes Ende. Denn so ehrlich wie Kerth kann man eine Gitarre kaum spielen. Jeder Ton, jedes Timing, jeder Fingerschlag kommt beinahe ungefiltert aus den Boxen, was auch jede kleinste emotionale Regung dieses Gitarrenvirtuosen hörbar und erlebenswert macht. Dazu noch auf einer selbstgebauten Gitarre, die man unten am Korpus statt oben am Gitarrenhals stimmt. Nur ab und zu bedient sich Kerth einer anderen Modells, zum Beispiel einer „59-Dollar-Gitarre aus Japan – und die bringt’s.“

„Welches Sakko soll ich anziehen?“ Jürgen Kerth lässt sich bei der Liedauswahl und des Erscheinungsbildes gerne mal vom Publikum beraten.
„Welches Sakko soll ich anziehen?“ Jürgen Kerth lässt sich bei der Liedauswahl und des Erscheinungsbildes gerne mal vom Publikum beraten. © kairospress
Jürgen Kerth lieferte seine bekanntesten Lieder von „Ich liebe die Eine“ bis „Helmut“. Auf seiner Eigenbau-Gitarre klebt noch ein alter Aufkleber der ehemaligen Fortschritt-Werke Neustadt i.Sa. Im Hintergrund sein Sohn Stefan am Bass.
Jürgen Kerth lieferte seine bekanntesten Lieder von „Ich liebe die Eine“ bis „Helmut“. Auf seiner Eigenbau-Gitarre klebt noch ein alter Aufkleber der ehemaligen Fortschritt-Werke Neustadt i.Sa. Im Hintergrund sein Sohn Stefan am Bass. © kairospress
Schlagzeuger Heiko Jung lieferte die Basis für ein perfekt eingespieltes Trio.
Schlagzeuger Heiko Jung lieferte die Basis für ein perfekt eingespieltes Trio. © kairospress
Gezielt eingesetzte Rampenlichter ließen nächtliche Sommerfestival-Gefühle aufkommen.
Gezielt eingesetzte Rampenlichter ließen nächtliche Sommerfestival-Gefühle aufkommen. © Tom Vörös

In der Dämmerung wacht auch das Publikum zunehmend auf, zaghaftes bis leicht exzessives Tanzverhalten wird registriert, während Jürgen Kerth sein Lied „Geburtstag im Internat“ galant mit dem Beatles-Klassiker „Get Back“ verbindet. Warum einem das Tanzen an diesem Abend leichtfällt ist aber nicht nur mit dem allgegenwärtigen Kultur-Hunger und dem sympathischen Liedgut zu erklären, sondern auch mit der Meisterleistung des Rhythmus-Duos Heiko Jung am Schlagzeug und Kerths Sohn Stefan am Bass. Auf diesem über Stunden stabilen Fundament soliert sich der Papa teils in höchste Höhen der Gitarrenkunst. Während die Texte teils zum Lächeln anregen: „Kindheit, schöne Zeit, Zeit der Illusionen, da ist ein Groschen noch wie zehn Mark, ein Tag so lang wie eine Woche, mit Brausepulver.“

Nach einer weiteren Pause und im vierten Programmteil – es ist mittlerweile 23.30 Uhr – singt Jürgen Kerth „Ich bin k.o.“ und verbreitet, etwas verspätet, „Frühlingsmelancholie“. Aus dem Publikum ruft es: „Gloriosa“! Und dann spielt der 73-Jährige nach vierstündigem Einsatz noch eines seiner schwierigsten Lieder seines letzten DDR-Amiga-Albums von 1982. Keine Spur von Erschöpfung nach der langen Show. Jürgen Kerth ist ein unermüdlicher Live-Aktivist geblieben. Einer, von dem mancher Künstler von heute etwas lernen kann.