Kulturstaatsministerin Roth will "wie eine Löwin kämpfen"

Das Bundeskanzleramt in Berlin, 8. Etage. Claudia Roth zeigt ihr neues Büro. Belebt wirkt es, farbenfroh und ironiebewusst: Bunte Gartenzwerge stehen am Fenster, dazwischen ein Gemälde von Roth selbst, das sie als heilige Maria zeigt. Auf dem Bürotisch ein Band mit letzten Arbeiten des Worpsweder Künstlers Heinrich Vogeler. Roth steht vor einem Bild von Mehmet Güler, dem türkisch-deutschen Maler aus Anatolien. Sie schwärmt vom wuchtigen, brennenden Rot dieser Malerei.
Frau Roth, Sie nennen immer Kultur und Demokratie in einem Atemzug. Im Koalitionsvertrag ist die Absicht verankert, Kultur zum "Staatsziel" zu machen. Inwieweit darf der Staat in die Kultur eingreifen und gestalten?
Ohne Kultur fehlt der Demokratie die Stimme. Ich glaube, dass Kultur diese Gesellschaft in all ihrer Vielfalt zusammenhält. Hier zum Beispiel dieses typische türkische Rot von Mehmet Güler auf dem Bild an meiner Wand: Güler lebt lange in Kassel und hat gesagt, dass er sich nun, wenn seine Bilder im Kanzleramt hängen, endlich diesem Land zugehörig fühlt. Für mich ist die Kunst- und die Kulturfreiheit immer auch ein Gradmesser für die Stärke einer Demokratie. Wie ist es in anderen Ländern? In der Türkei sitzt der Kulturförderer und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala im Gefängnis, viele Künstlerinnen und Publizistinnen ebenfalls. Und wer wird nicht alles in Belarus, Russland oder China inhaftiert? Die Kunstfreiheit wie eine Löwin zu verteidigen, das ist eine meiner wichtigsten Aufgaben. Gerade auch dann, wenn Politiker gewisser Parteien sich freuten, als alle Goethe-Institute wegen Covid geschlossen waren, weil dann endlich wieder deutsche Kultur gemacht werden könne.
Aus dem Koalitionsvertrag geht auch hervor, dass der Akzent von der Hochkultur in die Fläche verschoben werden soll. "Von Klassik bis Comic, von Plattdeutsch bis Plattenladen", so heißt es. Gibt es denn eine grüne Kulturpolitik?
Ich bin mit Leidenschaft parteiisch für die Kultur, für die Kultur in all ihrer Vielfalt. Aber grüne Themen spielen natürlich auch in der Kulturpolitik eine wichtige Rolle. Wir haben als Klimaregierung die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz in allen Ressorts des Koalitionsvertrags verankert. In meinem Haus werden wir zum Beispiel eine Anlaufstelle für Green Culture einrichten, mit der wir die Kulturszene ermutigen und ermächtigen wollen, klima- und umweltgerechter zu arbeiten. Dafür wollen wir politisch die notwendigen Bedingungen schaffen, damit die Kulturbetriebe zukunftsfähig bleiben.
Sie sprechen da auch vom Museum des 20. Jahrhunderts, das 2026 fertiggestellt werden soll?
Gerade bei solchen Planungen kann und sollte der Bund eingreifen, was die neuen Kriterien der Nachhaltigkeit betrifft. Ich setze aber auch andere Schwerpunkte in der Kulturpolitik: auf Erinnerungskultur und Dekolonialisierung, das war ja bisher vor allem ein Expertenthema. Auch die Frage, wie wir die Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft gestalten, ist mir sehr wichtig. Auch unsere Erinnerungskultur Ost und West müssen wir zusammenführen. Ein weiterer mir wichtiger Komplex sind die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Diversität.
Besonders in der Kultur passiert bei diesen Themen doch schon viel. Oder ist das nur die viel geliebte Innensicht von Kulturleuten?
Ich nenne als Beispiel oft das deutsch-türkische Filmfest in Nürnberg, ein tolles Festival, aber noch viel zu wenig bekannt. Wie viele Moritze und Claudias gehen dort hin? Fast keine, das ist wie eine Mauer. Oder nehmen Sie die vielen Jurys im Kulturbereich – bildet sich in ihnen etwa unsere vielfältige Gesellschaft ab? Wohl kaum. Ein großes Problem ist auch der Gender-Pay-Gap, der ist in vielen Kultureinrichtungen oder der Filmbranche wirklich dramatisch. Da muss endlich etwas passieren!
Wenn Sie für Teilhabe plädieren: Deutsche Kulturinstitute wie manch Theater geben oft ein Bild ab mit feudalistischen Machtstrukturen, in denen einer alles entscheidet, subjektiv, ohne Absicherung oder Überprüfung.
Als Kulturstaatsministerin kann ich natürlich nicht in die Theater hineinregieren, Stichwort Kunstfreiheit! Aber über Mindestgagen, über das Ende des Patriarchats sollte man sprechen.
Wir meinten eher grundsätzlich die Strukturen an klassischen Kultureinrichtungen. Würde es nicht zum "Staatsziel Kultur" gehören, diese Einrichtungen nach innen hin etwas menschenfreundlicher zu gestalten?
Diese Debatte sollten wir führen. Wie sollen Kultureinrichtungen heute aussehen, welche Strukturen sollen sie haben? Und das betrifft eben auch die Theater, die müssen sich da anschließen.
Sie haben die Gefährdung der Kultur durch die Pandemie angesprochen. Ist es jetzt umso wichtiger, auch die freien Künstler, die teilweise diese festen Institutionen bespielen, aber in der Pandemie eben nicht durch Kurzarbeitergeld abgesichert waren, zu fördern?
Eine ganz zentrale Aufgabe ist es, daran zu arbeiten, dass sich diese Spaltung zwischen freien und in Institutionen arbeitenden Künstlern nicht verschärft. Das hat auch Ulrich Khuon, der Intendant des Deutschen Theaters, gesagt: Die Philharmoniker, die großen Theater werden nicht wegbrechen, aber die freien Künstler und Veranstalter sind stark gefährdet.
Und genau die mussten Corona-Hilfen teilweise wieder zurückzahlen, weil sie als Deckung von Betriebs-, nicht aber für die Lebenshaltungskosten verwendet werden durften. Am Ende mussten Künstler Kredite aufnehmen, um Corona-Hilfen zurückzuzahlen. Müsste da nicht die Bundesregierung dringend etwas tun?
Da wurden viele Fehler gemacht. Zum Teil herrschte am Anfang eine große Unkenntnis, wie die künstlerischen Lebens- und Arbeitsrealitäten überhaupt aussehen, das habe ich auch in einigen Debatten im Bundestag erlebt. Zu mir kamen Schauspieler und Musiker und waren erbost, dass man ihnen Hartz IV ans Herz legte. Sie sagten, wir sind gar nicht arbeitslos, wir dürfen nur nicht arbeiten! Angeblich soll ein Jobcenter einem Geiger sogar empfohlen haben, seine Geige zu verkaufen, weil die so wertvoll sei.
In dem Fall ging es um einen Musiker, der den Zugang zur Grundsicherung beantragte, dafür aber wegen der Geige als zu "vermögend" galt.
Nun haben wir die Hilfen aus dem Programm "Neustart Kultur", die schon von meiner Vorgängerin Monika Grütters aufgesetzt worden sind. 74 Programme decken dabei unterschiedliche Bereiche des Kulturlebens ab. Rückzahlungen fallen hier nicht an, weil Geld für konkrete Vorhaben und Produktionen ausgezahlt wird und nicht rückwirkend Einnahmeausfälle ausgeglichen werden. Rückforderungen sind deshalb vor allem ein Problem bei den vom Wirtschaftsministerium administrierten Überbrückungs- und Neustarthilfen. Hier werden die Bedingungen für Rückzahlungen derzeit noch einmal überprüft. Wir führen derzeit auch Gespräche über Mindesthonorierungen und prüfen, ob und wie wir diese in die Förderrichtlinien des Bundes aufnehmen können.
Da gibt es einen sehr großen Nachholbedarf, da blickt man ja kaum durch.
Um Kreative und Kulturschaffende besser sozial abzusichern, möchten wir auch die Künstlersozialkasse stabilisieren. Da geht es zum Beispiel darum, die erhöhte Zuverdienstgrenze dauerhaft zu erhalten. Wir wollen die Möglichkeiten für Kreative und Künstler verbessern, Einkünfte aus nicht-künstlerischer selbstständiger Arbeit zu erzielen. Über die Verbesserung der Bedingungen für Kulturschaffende sind wir schon mit Arbeitsminister Hubertus Heil im Gespräch.
Das Amt des Kulturstaatsministers wurde von der Schröder-Regierung eingeführt und im Kanzleramt verortet, um zu zeigen, dass Kultur wichtig ist. Haben Sie den neuen Kanzler an ihrer Seite? Er sitzt im Stockwerk unter Ihnen.
Bisher ja. Ich kenne ihn ja schon lange. Es ist auch bei uns die gemeinsame Überzeugung spürbar, Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik. Das bedeutet für mich auch einen Aufbruch in die Wirklichkeit unserer Einwanderungsgesellschaft. Wenn man aus Bayern kommt wie ich, dann wurde einem ja eingebläut, dass wir kein Einwanderungsland seien. Das war schon fast eine Realitätsverweigerung. Nein, diese Gesellschaft der vielen findet sich in unserem Koalitionsvertrag überall wieder, da wird diese Bundesregierung viel ändern.
Das Gespräch führten Moritz Rinke und Rüdiger Schaper.