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Kunstszene Ost: Im Osten verehrt, im Westen verhindert

Im SZ-Interviewprojekt „Kunstszene Ost“, Teil 12, erzählt der Filmregisseur Jürgen Böttcher, der sich als Maler Strawalde nennt, wie sein Mauerfilm entstand.

Von Birgit Grimm
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Strawalde, 91, lebt in Berlin. Sein Atelier ist vollgestellt mit Bildern aus allen Jahrzehnten seines Schaffens.
Strawalde, 91, lebt in Berlin. Sein Atelier ist vollgestellt mit Bildern aus allen Jahrzehnten seines Schaffens. © Thomas Kretschel

1989/90 hielten Sie in Ihrem Dokumentarfilm „Die Mauer“ die letzten Wochen des einst antifaschistischen Schutzwalls in Berlin fest. War das eine Auftragsarbeit, Herr Böttcher?

Die Idee zu diesem Film habe ich Thomas Plehnert zu verdanken, meinem Kameramann, mit dem ich wichtige Filme gemacht habe wie „Rangierer“. Das war immer so eine brüderliche Zusammenarbeit! Jedenfalls kam Tommy drauf: Wir müssen nachgucken, was an der Mauer passiert.

Faszinierend finde ich an dem Film diese absolute Ruhe, diese langsame Gangart, mit der Sie über eine Zeit berichten, in der sich die Ereignisse überschlugen.

Langsam nenne ich das nicht, sondern eindringlich. Hier geht es um höchste Präzision, um intensive Anschauung. Das war ein Vorgang, der war einmalig. Die Mauer war wie ein Lindwurm, wie eine grauenhafte Kette. Jetzt wurde sie angepickt von allen Seiten und brach schließlich zusammen. Sogar die NVA hat große Stücke herausgerissen. Wo gibt es denn sowas! Und dann kamen die Wessis gucken, wie der Osten ist. Wie diese eine Hübsche da aus Hannover, die so schön spricht und mit dem Feldwebel der Grenztruppen kokettiert!

Tolle Idee auch, dass Sie die Geschichtsbilder auf die Mauer projizieren.

Ja, die Geschichte auf der Haut dieses Lindwurms! Das ist Verfremdung im edelsten Sinn. Mit einem Projektionsapparat von 1945 haben wir das gemacht. So was habe ich alles bei Brecht gelernt.

Wie kamen Sie auf die Idee, das Konzert „The Wall“ der Rolling Stones von einem Dach aus zu filmen?

Wir hatten nicht das Geld, um direkt beim Konzert zu filmen. Also sind wir rauf aufs Dach nah am Brandenburger Tor, und die Schornsteinfeger waren schon da. Das ist natürlich ein Zauberding! Das ist so eine Genugtuung als Dokumentarist, diese Momente genutzt zu haben. Das nenne ich Realismus auf den Punkt gebracht.

Sie haben von 1960 bis 1991 für das Dokumentarfilmstudio der Defa gearbeitet. Waren Sie fest angestellt?

Ja, die ganze Zeit. Auch wenn ich nicht drehte, bekam ich jeden Monat Geld. Die waren allerdings froh, wenn ich nichts gedreht habe. Aber sie haben mir nie den Kopf abgerissen, das war schon schräg.

Bekamen Sie konkrete Filmaufträge oder fanden Sie Ihre Themen selbst?

Meistens war es so: Wenn es in der DDR Versorgungsengpässe gab und die Politiker merkten, dass sie etwas falsch gemacht hatten, erklärten sie uns, dass sie einen Film über diesen oder jenen Beruf brauchten. 1972 habe ich den Film „Wäscherinnen“ gemacht, und zwar mit Leib und Seele. Diese Mädels sind doch herrlich, ganz zauberhaft! Da geht es nicht nur um die Arbeit, sondern auch um die Liebe. Der Film wurde im Fernsehen gezeigt, und ich dachte, die Menschen freuen sich. Aber es war grauenhaft: Vor allem Frauen haben sich über den Film beklagt.

Warum denn das?

Sie meinten, dass sie überhaupt nicht wissen wollen, ob die Mädchen einen Liebhaber haben: Wir wollen, dass unsere Wäsche gewaschen wird, die sollen nicht solchen Mist quatschen, hieß es. Kritik, es gab nur Kritik von verrückt gewordenen, sozialistischen Kleinbürgern.

Kann es nicht sein, dass diese Kritik von der SED-Führung initiiert war?

Im Gegenteil, auch meine Auftraggeber wurden sehr nachdenklich. Sie hatten ja etwas Gutes zeigen wollen und bekamen nur böse Reaktionen. Ich kann nur immer wieder sagen: Dialektisch war’s in der DDR!

Sie haben wunderbare filmische Arbeiterporträts geschaffen. Warum haben Sie nie einen dieser Arbeiter oder eine der Arbeiterinnen gemalt?

Den einzigen Arbeiter, den ich gemalt habe, den hat Biermann. Auf dem Bild sitzt ein Arbeiter am Tisch in so einer Angeberpose. Der raucht, der quatscht und gibt an. Naja, der alte Witz: Männer geben an. Und die Frau sitzt ihm gegenüber und denkt: „Ach, du Lieber gibst wieder an wie ein Sack Mücken. Aber ich habe dich trotzdem lieb.“ Das ist fast wie eine Filmszene. Ich war ja selbst lange Zeit ein Angeber mit Leib und Seele, auch aus erotischen Gründen. Ich hatte Erfolg als junger Kerl, ich sah ja nicht direkt schlecht aus. Ich habe das bei den Frauen nicht ausgenutzt, aber ich habe es genossen.


Ihre Frauen – ob im Film oder gemalt – sind starke Persönlichkeiten, selbstbewusst. Warum heißen sie in Ihren Gemälden Anna Chron?

Weil es ein totaler Anachronismus ist, wie ich male. Es ist heute total unmodern, das macht keiner mehr. Moderne Kunst ist kalt. Und ich male so einen Zauber! Das ist eine einzige Huldigung, denn Frauen sind viel stärker als Männer. Frauen sind starke Zauberwesen, das liebe ich, und das drücke ich aus. Dass ich die Spannung halten kann beim Malen, das macht mich froh. Auch wenn ich abstrakt male, ist es nie kalt.

Mit Wolf Biermann waren Sie befreundet. Wie haben Sie seine Ausbürgerung erlebt?

Ich habe dagegen protestiert, ich war einer der Ersten. Dann sollte ich abschwören. Habe ich aber nicht. Aber ich war Genosse, und ich habe in der Dokumentarfilmredaktion gearbeitet. Also haben sie ein Parteiverfahren angesetzt. Ich habe denen gesagt: Biermann ist mein Freund, und sein Vater, der Gewerkschaftsfunktionär, Hafenarbeiter und Kommunist, wurde in Auschwitz umgebracht. Der Sohn ist mutig und wollte die DDR auf seine Art. Ich habe durch ihn tolle Lieder kennengelernt, und ich denke nicht daran, abzuschwören. Ich dachte, nun werde ich auch verjagt oder kann keine Filme mehr machen. Aber ich bekam nur eine strenge Rüge, mehr nicht.

Das klingt ja, als hätten Sie Narrenfreiheit gehabt?

So würde ich das nicht nennen. Einmal habe ich Horst Sindermann angebrüllt in einer großen öffentlichen Sache und dachte: Das war es jetzt. Der war damals Volkskammerpräsident. Biermann meinte: „Diese Leute waren mal mutige Kämpfer gegen die Nazis, sie saßen im Zuchthaus. Jetzt sind sie große Bosse und alle um sie herum schleimen. Und du brüllst einen von ihnen an! Vielleicht ist er dir dankbar, weil er sich endlich mal wieder lebendig fühlt?“ Er hatte wohl recht. Später erfuhr ich, dass sie mich im Politbüro Spartakus nannten. Und dass sie dort meine Filme über die Arbeiter in der DDR schätzten. Manfred Krug allerdings musste die DDR verlassen, weil er nicht abgeschworen hat, das hat ihm sehr zu schaffen gemacht. Übrigens hat er in meinem Film „Drei von vielen“ den Kommentar gesprochen, und ich war so blöd, seinen Namen nicht in den Abspann zu schreiben. Aber der Film wurde ja sowieso verboten.

Man erkennt die Stimme von Manfred Krug! Aber das Verbot dieses Films ist heute nicht mehr nachvollziehbar.

In „Drei von vielen“ geht es um drei junge Dresdner Arbeiter, die in ihrer Freizeit Kunst machen – Peter Herrmann, Peter Graf und Peter Makolies. Heute sind sie bekannte Künstler. Aber dass einer im Schaukelstuhl sitzt und raucht, das durfte damals nicht gezeigt werden.

Von "Jahrgang 45", Ihrem einzigen Spielfilm, verschwand bereits der Rohschnitt in der Versenkung. Warum? War die Geschichte zu realistisch?

Die Begründung für das Verbot war: So sind unsere Jugendlichen nicht! Wir hatten den Film 1966 in Berlin gedreht an Originalschauplätzen und in Wohnungen im Prenzlauer Berg. Das war völlig unüblich.

Sie sind der einzige Künstler aus der DDR, der eine Retrospektive im Pariser Centre Pompidou hatte. 1986 waren Sie mit Ihren Filmen in Paris, 1988 auf dem Internationalen Filmfestival Edinburgh und 1989 im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main. Hat man Sie in den Westen geschickt, weil Ihre Filme künstlerisch wertvoll waren oder steckte politisches Kalkül dahinter?

Die DDR-Funktionäre hatten begriffen, dass man in der Welt mit meinen Filmen Furore machen kann. Dafür waren sie mir auch dankbar. Obwohl ich zu Biermann und zu Penck hielt, haben sie mich weiter Filme machen lassen. Das ist sehr, sehr dialektisch, nicht wahr?

Sind Sie immer noch mit Biermann befreundet?

Nee, als Biermann Anfang der 90er-Jahre den Einmarsch der USA in den Irak lobte, da war es aus. Das geht nicht! Mir war klar, dass die Amis nur ans Öl wollten. Und Biermann stellte sich an die Seite der Amis.

Hielt Ihre Freundschaft mit A. R. Penck länger?

Die Begegnung mit Penck und den anderen jungen Malern in Dresden, die zu mir in den Malkurs kamen, war mir wichtig im Leben. Die haben mich geachtet. Mit Penck hatte ich noch Kontakt, als er im Westen war. Von seinen Reisen hat er mir Karten geschrieben. Die hat die Stasi mitgelesen. Penck hat mir später signalisiert, dass er nicht mehr sagen durfte, dass ich sein Lehrer war. Sein Galerist hat dafür gesorgt, dass Penck gar keinen Meister hatte.

Mit Gerhard Richter haben Sie studiert. Haben Sie sich auch ausgetauscht?

Gerhard Richter war paarmal bei mir, bevor er in den Westen ging. Er war fasziniert von meinem Zeug, völlig fasziniert. Er hat meine „Schwarze Madonna“ gesehen und hat mich bewundert. Grenzenlos. Ich saß bissel ratlos vor dem, was er damals malte. Ein ganz lieber Kerl. Dann haut er ab in den Westen und wird berühmt. Ich wollte ihn gern treffen. Aber es ist nie geglückt. Im Vergleich zu ihm ist es ja fast nix, was ich erreicht habe. Von mir will kaum jemand ein Bild haben. Lediglich als Film-Mann habe ich eine gewisse Reputation.

Es wird doch aber den einen oder anderen Sammler geben?

Vor einiger Zeit hat in der Galerie Himmel in Dresden eine Frau Böttcher – das ist seltsam, nicht? – also, da hat eine Frau Böttcher viel Geld für ein Bild von mir bezahlt. Im Allgäu gibt es einen Sammler, der hat mir mit Leidenschaft viele Werke abgeluchst. Der ist mir oft auf den Wecker gegangen, ein stolzer Schwabe. Wir wurden Freunde, und der Sammler wurde zum Künstler. Holzskulpturen entstanden, zauberhaft farbig bemalt. Und mein Freund erklärte mir, ich hätte ihn dazu inspiriert.

Warum nennen Sie sich seit 1975 als Maler Strawalde?

Als Filmemacher bin ich Jürgen Böttcher, da kann man nichts mehr ändern. Penck nannte sich nach einem Eiszeitforscher, und der Schorsch nennt sich Baselitz nach Deutschbaselitz, wo er herkommt. Und ich nenne mich Strawalde. Wie der Ort in der Oberlausitz, aber ohne h.

Sie haben zuerst Malerei studiert. Warum sind Sie nicht dabei geblieben, sondern zum Film gewechselt?

Das war eine soziale, philosophische und politische Entscheidung. Die Malerei ist Kunst, und ich habe gemerkt, dass es in der DDR keine gute Kunst zu sehen gab. Aber man konnte großartige realistische Filme von Engländern und Italienern sehen. Das hat mich als junger Kerl völlig beflügelt. Aber ich wäre selbst nicht draufgekommen. Ich wäre auf nichts von selber gekommen, auch nicht darauf, Malerei zu studieren. Ich bin immer von Weibsbildern auf alles geschubst worden.

Das Porträt seiner Mutter zeichnete Strawalde 1950. Damals hieß er noch Jürgen Böttcher. Das Blatt hängt im Zinzendorfschloss Berthelsdorf.
Das Porträt seiner Mutter zeichnete Strawalde 1950. Damals hieß er noch Jürgen Böttcher. Das Blatt hängt im Zinzendorfschloss Berthelsdorf. © ronaldbonss.com
"Anna" von 2006, vollendet hat Strawalde das Gemälde im Jahr 2010. Es ist zu sehen im Zinzendorfschloss Berthelsdorf.
"Anna" von 2006, vollendet hat Strawalde das Gemälde im Jahr 2010. Es ist zu sehen im Zinzendorfschloss Berthelsdorf. © ronaldbonss.com

Wer waren diese Frauen?

Die Kreativität habe ich von meiner Mutter, sie war eine tolle Frau. Ich konnte schon als Kind gut zeichnen und habe ihr geholfen, indem ich Porträts zeichnete. Habe Geld dafür bekommen, ein Pfund Kartoffeln, ein Glas Sirup oder sowas. Das Politische und mein Interesse an anderen Menschen, das ist der Kern, nicht die Kunst. Ich liebe den Begriff Kunst überhaupt nicht, ich sage stattdessen: Kunsthonig!