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Matze Hielscher: „Schule in der DDR war Züchtigung“

Der Podcaster von „Hotel Matze“ über Erinnerungen an seine Schulzeit in Brandenburg und darüber, warum er seinen Sohn lieber anders erziehen möchte.

Von Johanna Lemke
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Matze Hielscher spielte in den 2000er-Jahren erfolgreich in der Indierock-Band Virginia Jetzt. Inzwischen ist er erfolgreicher Podcaster und Unternehmer.
Matze Hielscher spielte in den 2000er-Jahren erfolgreich in der Indierock-Band Virginia Jetzt. Inzwischen ist er erfolgreicher Podcaster und Unternehmer. © Yves Borgwarth

Sonst stellt Matze Hielscher die Fragen: In seinem erfolgreichen Podcast „Hotel Matze“ spricht mit Prominenten, im „Familienrat“-Podcast befragt er die ehemalige „Super-Nanny“ Katia Saalfrank zu Erziehungsdingen. Hielscher wurde 1979 im brandenburgischen Elsterwerda geboren und lebt in Berlin. Gerade ist sein zweites Buch erschienen: „Die Akademie meines Lebens“ (Piper, 320 Seiten, 18 Euro), in dem er seine Interviews verarbeitet. Im SZ-Gespräch dreht sich bald alles ums Lernen: für Hielscher ein Lebensthema.

Herr Hielscher, Sie erzählen in Ihren Podcasts nicht viel von sich, aber ab und zu deuten Sie eigene Kindheitserfahrungen an – meist ungute. Wie sehr haben die Sie geprägt?
Als Kind fühlt sich vieles normal an, man nimmt es als gegeben. Vieles von dem, was ich erlebt habe, wurde mir erst danach klar. Vor allem die Schulzeit war sehr schwer für mich. Mein Vater sagte mal, er sei froh, dass die Mauer gefallen sei, weil er glaube, ich hätte als Jugendlicher große Schwierigkeiten in der DDR bekommen.

Wissen Sie, was er damit meinte?
Grundsätzlich kann ich nicht sehr gut mit Autoritäten umgehen, das ist mir oft auf die Füße gefallen. Zwar war ich Jungpionier, aber ich habe mich damit nicht identifiziert und konnte mich nicht gut einordnen, zumal meine Familie christlich war. Ich erinnere mich an einen Pioniertag, bei dem ich des Platzes verwiesen wurde, weil ich aus der Reihe getanzt bin. Das war ein großer Schammoment für mich.

Warum war die Schule so eine Qual?
Das Lernen fiel mir schwer, ich bin gerade so durch die Realschule gekommen. Ich weiß gar nicht, wie viele Unterschriften ich unter Klassenarbeiten gefälscht habe und erinnere mich an viele frühe Klassenbucheinträge, weil ich nicht gespurt habe.

Was ist Ihnen konkret widerfahren?

Ich habe mehrere Lehrer erlebt, die grauenhafte Sadisten waren. Es war normal, dass Schlüsselbunde nach Kindern geworfen wurden. Kinder wurden drangsaliert und gegeneinander ausgespielt. In Sozialkunde forderte uns unsere Lehrerin auf, alles aufzuschreiben, was wir an den anderen doof fanden. Danach war der Zusammenhalt in der Klasse erledigt. Im Musikunterricht ließ die Lehrerin die Jungs im Stimmbruch vor der Klasse singen. Erst viel später habe ich begriffen, wie furchtbar das war. Man muss es einfach so sagen: Es war eine Züchtigung.

Ähnliche Erfahrungen haben in den 70er-, 80er-Jahren auch Menschen in Westdeutschland. Sie aber führen Sie Ihre Erlebnisse auf das DDR-Schulsystem zurück?
Natürlich haben auch Schülerinnen und Schüler im Westen schlimme Schulerfahrungen gen gemacht, ich denke da an die Odenwaldschule – Horror! Ich kann natürlich nur von meinen eigenen Erfahrungen sprechen, bin aber überzeugt, dass das politische System der DDR über die Wende hinaus in den Schulen gewirkt hat. Dieses System war ein spezielles – und es war eben kein Gutes. Es gab einfach keinen Platz für irgendeine Art von Individualismus. Wenn du mitgemacht hast, war alles super. Aber wenn nicht, dann hattest du ein Problem.

Fanden Sie zu Hause Rückhalt?
Es überwog oft die elterliche Sorge darüber, ob ich genug lerne – und dass sich mein mögliches Scheitern negativ auf mein späteres Leben auswirken könnte. Diese Sorge kennen bestimmt alle Eltern.

Welche Folgen hatte die Schulerfahrung für Sie?
Meine Überzeugung war lange, ich sei zu doof und ich könne nicht gut lernen. Ich habe mich klein und zurückgeblieben gefühlt und immer gedacht, alle anderen seien schlauer als ich. Erst mit Anfang 30 wurde mir klar: Ich bin nicht zu dumm, ich brauche nur eine andere Form des Lernens.

Werfen Sie das den Lehrern heute vor?

Nein, und ich sage auch nicht, dass das alles Sadisten waren. Manche haben einfach geglaubt, dass sie das Richtige tun. All diese Erfahrungen haben mich verletzt, aber ich rechne sie auch der Zeit zu, in der sie geschahen. Genauso wie die Tatsache, dass in unserem christlichen Haus viele Dinge nicht vor uns Kindern besprochen wurden aus Angst, wir könnten uns in der Schule verplappern und „die falschen Leute“ – also die Stasi – könnten davon erfahren.

Vieles wurde ausgeschwiegen?
Wie sehr mich das geprägt hat, habe ich erst viel später begriffen. Damals gab es nur das diffuse Gefühl, dass Dinge nicht gesagt werden. Es macht etwas mit einem Kind, wenn es andauernd hört „Das ist nichts für dich“.

Sprechen Sie heute mit Ihren Eltern darüber?
Meine Mutter sagte mal zu mir, ich sei ein ganz schönes Arschloch als Teenager gewesen. Ich antwortete ihr: „Du aber auch.“ In diesem Moment begann etwas sehr Heilsames. Das Thema „Matze und Schule“ ist allerdings eine Box, die niemand gern anfasst, weil es für alle extrem schwierig war.

Sich einzugestehen, dass es dem Kind in der Schule nicht gut ging, kratzt am Wert der eigenen Elternschaft.
Und es ist mit viel Scham verbunden. Ich höre dann oft den Satz „Wir haben es doch immer gut gemeint“ – und ich kann ihn verstehen. Dass aus dem Kind nichts wird oder dass es Ärger bekommt, das sind Urängste. Alle lebten innerhalb der Zwänge des Systems der DDR-Erziehung, das weder entwicklungsgerecht noch artgerecht war.

Welche schönen Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit?
Genauso wie ich über geschmissene Schlüssel berichte, kann ich von wunderschönen Erlebnissen erzählen. Ich bin mit meinen Großeltern, Onkeln und Cousinen aufgewachsen, wir waren eine riesige Gemeinschaft. Meine Eltern konnten sogar einfach in den Urlaub in die BRD fahren, Oma und Opa passten auf uns auf. Meine Frau und ich bezahlen jetzt Babysitter, wenn wir mal ins Kino gehen – das ist vielleicht etwas, das uns unser Kind eines Tages vorwerfen wird: dass wir so wenig Gemeinschaft haben.

Wurden Sie neu mit Ihrer Vergangenheit konfrontiert, als Sie Vater wurden?

Durch meinen Sohn habe ich mich an viele Dinge aus meiner Kindheit erinnert und sie für mich bearbeitet. Mir rutschten auf einmal Sätze raus, die ich selbst furchtbar fand, wenn meine Eltern sie gesagt hatten. Doch das Schöne ist: Wenn man diese Sätze nicht ausspricht, passiert Heilung. In Konflikten mit meinem Sohn frage ich mich: Was hätte ich als Kind in so einer Situation gebraucht? Indem ich es schaffte, nicht in die alten Muster hineinzurutschen, konnte ich mit vielen Erinnerungen Frieden schließen. Es ist fast, als hätten meine Eltern es dann auch anders gemacht. Als hätte ich eine Videokassette überspielt.

Wie erziehen Sie Ihren Sohn?
Durch die Gespräche mit Katia Saalfrank in unserem Podcast habe ich gelernt, dass Beziehung wichtiger ist als Erziehung. Wir schauen als Familie, welche Abläufe für uns passen, damit es allen leichter fällt. Wenn unser Sohn keine Lust auf Haarewaschen hat, dann muss danach etwas kommen, was er gern macht. So ist unser wöchentlicher Filmabend entstanden.

In Ostdeutschland lässt sich in den letzten Jahren beobachten, dass Demokratieverdrossenheit und der Wunsch nach autoritäreren Verhältnissen und starken Führern größer werden. Manche führen das unter anderem auf die Prägungen vieler Menschen durch die Erziehungsmethoden in der DDR zurück. Was halten Sie davon?
Ich glaube, dass die Erziehung weniger Auswirkungen hatte als das nicht eingelöste Versprechen der blühenden Landschaften, dem gegenüber die vielen Wendeverlierer*innen stehen. Dadurch ist das Misstrauen entstanden, das ich erlebe, wenn ich in Brandenburg und Sachsen bin. Als weiteren Grund sehe ich die Tatsache, dass in der DDR so gut wie keine westliche politische Bildung stattfand. Ich habe im Geschichtsunterricht „Schindlers Liste“ angeschaut – das war nahezu alles, was wir zum Thema Zweiter Weltkrieg gelernt haben.

Sie sagen, die Schule sei nicht der Ort für Sie gewesen, an dem Sie gut lernen konnten. Welcher war es dann?
Rechtschreibung und Mathe lernt man schon irgendwie. Aber am meisten lerne ich definitiv aus den Gesprächen mit anderen Menschen. Aus meinen Podcasts, aber auch aus Interviews wie diesem.

Was war das Wichtigste, was Sie in den letzten Jahren gelernt haben?
Dass nicht alles Schwarz-Weiß ist. Wir alle sehnen uns nach einfachen Antworten, aber die größte Erkenntnis ist für mich, dass es die nicht gibt. Das ist schade – aber am Ende macht es alles auch offener.

Das Gespräch führte Johanna Lemke.