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„Mehr Cancel Culture bitte!“

„Politische Korrektheit“ schadet nicht der Demokratie. Sie macht sie nur vollständiger und besser, schreibt unser Gastautor Karsten Schubert.

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Die Kabarettistin Lisa Eckhart steht wie kaum ein Künstler für Cancel Culture, nachdem sie wegen angeblicher antisemitischer und rassistischer Äußerungen von einem Literatur-Festival ausgeladen worden war.
Die Kabarettistin Lisa Eckhart steht wie kaum ein Künstler für Cancel Culture, nachdem sie wegen angeblicher antisemitischer und rassistischer Äußerungen von einem Literatur-Festival ausgeladen worden war. © dpa

Von Karsten Schubert*

Der Kabarettistin Lisa Eckhart abgesagt wegen Rassismus, ein Gedicht an einer Berliner Hochschule übermalt wegen Sexismus, und J. K. Rowlings neues Buch boykottiert wegen Transphobie – diese drei Beispiele werden als Gefährdung der Kunstfreiheit durch „Cancel Culture“ diskutiert. Doch um die Kunst und Kunstfreiheit geht es dabei eigentlich gar nicht. Sie ist nur der Austragungsort gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Dabei sind Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit zentrale Argumente – oder besser: Waffen – des konservativen politischen Projekts geworden, mit dem emanzipative Änderungen abgewehrt werden.

Dieser machtpolitische Missbrauch muss klar von der grundrechtlichen Dimension unterschieden werden. Dafür ist zwischen drei Ebenen Kunstfreiheit zu differenzieren: im nichtstaatlichen, parastaatlichen und staatlichen Bereich. Die Neuregelungen von Diskurs, Kultur und Kunst durch „Politische Korrektheit“, „Cancel Culture“, oder „Identitätspolitik“ bedeuten nicht den Zerfall der Demokratie, sondern sind ein Schritt in Richtung ihrer vollständigeren Realisierung.

In den meisten Fällen, in denen die Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit von konservativer Seite kritisiert wird, gibt es sie gar nicht. Die Kunst- und Meinungsfreiheit sind in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat. Der Staat tritt aber als Akteur bei den meisten aktuellen Auseinandersetzungen um Kunstfreiheit gar nicht auf.

Was es allerdings gibt, ist Regulierung und Normierung, und damit: Macht. Der Fehler des Arguments für Kunstfreiheit ist die implizite Forderung, dass Macht in der Kunst keine Rolle spielen sollte. Dabei wird ausgeblendet, dass die Kunst immer schon von Macht durchzogen ist, weil in ihr gesellschaftliche Normen reproduziert und verhandelt werden. Wenn nun emanzipative Bewegungen versuchen, die Normen der Kunst politisch zu ändern, dann verändert sich damit nicht die Regelungsintensität und Machtdurchzogenheit der Kunst. Es gibt nur, Erfolg vorausgesetzt, eine Verschiebung der Machtverhältnisse. Nur aus Sicht derjenigen, die von konservativen Normen profitierten, konnte es so erscheinen, als sei die Kunst frei in dem Sinne, dass sie nicht durch gesellschaftliche Macht geprägt ist – sie leiden an einem epistemischen Defizit: Machtblindheit wegen ihrer sozialen Position.

Früher eckte man mit sexistischen Gedichten nicht an – das ist Freiheit, aber eben nur aus dieser Perspektive. „Politische Korrektheit“ und „Cancel Culture“ sind also Ausdruck des konservativen Beklagens eines gesellschaftlichen Machtverlustes. Nun kann es so aussehen, als laufe diese Interpretation auf die Affirmation reiner Machtpolitik ohne universalistische Geltungsgründe hinaus. Doch tatsächlich geht es um die Verwirklichung des demokratischen Universalismus, der in seiner heutigen Form unvollständig ist – denn vom Kunstbetrieb und der politischen Öffentlichkeit „gecancelt“ waren viele Menschen, die nicht von alten Privilegienstrukturen profitierten, von vornherein.

Das demokratische Projekt ist unvollendet und für seine stückweise Weiterentwicklung und Verbesserung auf die Neuverhandlung und Kritik seiner aktuellen Ausschlüsse angewiesen. „Politische Korrektheit“, „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“, also die konservativen Ausdrücke für diese radikale Kritik, sind deshalb nicht die Einschränkung der demokratischen Pluralität und Inklusivität, sondern ihre weitere Verwirklichung. Nur über die partikular formulierten Kritiken am Universalismus kann dieser stückweise realisiert werden.

Die Kunstfreiheit wird auch in Bezug auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die staatliche Kulturförderung diskutiert. Und hier liegt die Sache komplizierter. Der zentrale Unterschied zum nichtstaatlichen Bereich ist, dass es in den öffentlich-rechtlichen Medien und der staatlichen Kulturförderung ein Neutralitäts- und Pluralismusgebot gibt. Deshalb sieht es auf den ersten Blick so aus, als müsste eine die machtvolle Durchsetzung von emanzipativen Normen im parastaatlichen Bereich mit Verweis auf das Neutralitätsgebot und die Kunstfreiheit abgelehnt werden. Staatlich orchestrierte „Political Correctness“ ist wohl nicht nur für Konservative eine schreckliche Vorstellung, die an Stalinismus erinnert.

Doch für eine solche Politisierung der parastaatlichen Institutionen kann auch demokratietheoretisch argumentiert werden. Die Demokratietheorie reagiert auf die unvollendete Realisierung der Demokratie und macht Vorschläge dazu, wie die politischen und rechtlichen Institutionen so reformiert werden können, dass sie systematisch Privilegienstrukturen aufbrechen. Der demokratische Fortschritt würde so auch intern, durch die Institutionen, und nicht nur durch äußeren gesellschaftlichen Druck forciert. Dabei geht es nicht um inhaltliche Setzungen, beispielsweise dass alle geförderte Kunst den Rassismus gegenüber Muslimen in der postmigrantischen Gesellschaft thematisieren soll. Sondern es geht um prozeduralistische Vorkehrungen, die inhaltlich offen sind und lokal unterschiedlich umgesetzt werden können. Beispielsweise durch die Einführung eines abstrakten Kriteriums, dass die Kunstförderung zum Abbau von arbiträrer Macht und Privilegien eingesetzt werden soll, oder dass Repräsentantinnen von marginalisierten Gruppen eine Stimme bei Mittelallokation und Programmgestaltungen haben.

Während die Kunstfreiheit also ein zentrales Gut der freien Demokratie ist, folgt daraus nicht, dass Neutralität und Pluralität des Staates gegenüber der Kunst formalistisch interpretiert werden sollten. Sondern es müsste als Auftrag ihrer tatsächlichen, materiellen, Realisierung durch geeignete Verfahren sein.

Auf der Ebene des Staatshandelns kommt es zu tatsächlichen Einschränkungen der Kunst- und Meinungsfreiheit, einerseits unmittelbar, wie beim Verbot von Volksverhetzung. Bei der staatlichen Regulierung von Hassrede sind die Ambivalenzen der politischen Bewertung und die Gefahr, dass emanzipative Regulierungen in eine schädliche Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit umschlagen, besonders groß, weil Regelungen gesellschaftsweit mit staatlicher Macht durchgesetzt werden. Beim Versuch der Politik, gegen Hassrede vorzugehen, kann es auch zu einer mittelbaren Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit kommen. So hat der Bundestag beschlossen und die Bundesregierung dazu aufgefordert, die BDS-Bewegung und ihren Unterstützerinnen zu verurteilen und von Kooperationen auszuschließen, weil er sie für antisemitisch hält.

Diese Frage ist allerdings höchst umstritten, wie die Kontroverse um Felix Klein und Achille Mbembe im Frühjahr 2020 zeigt. Der Bundestagsbeschluss kann weitreichende Folgen haben, weil BDS in der internationalen Kunst, Wissenschaft und Politik breite Unterstützung findet und einer großen Anzahl von Kooperationspartnerinnen und Künstlerinnen so ein deutscher Gesinnungstest auferlegt wird. Im Unterschied zur vorgeschlagenen prozeduralen Demokratisierung auf der parastaatlichen Ebene handelt es sich bei diesem Beschluss um eine konkrete inhaltliche Entscheidung, die mit staatlicher Macht in eine laufende politische Debatte eingreift. Das ist zwar auch keine unmittelbare und formale Einschränkung der Meinungs- und Kunstfreiheit, aber doch eine materielle, weil der Staat so erhebliche Ressourcen zur Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten einseitig verteilt bzw. entzieht.

Emanzipative Gesellschaftskritik stellt keine Gefahr für die Kunst- und Meinungsfreiheit dar. „Politische Korrektheit“, „Identitätspolitik“ und „Cancel Culture“ tragen tatsächlich zur inklusiveren Verwirklichung der Demokratie bei. Weil die Forderung von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit aber zur zentralen Strategie des konservativen Projekts geworden ist, ist es wichtig, ihren machtpolitischen Ge- beziehungsweise Missbrauch klar von ihrer grundrechtlichen Dimension zu trennen.

*Der Autor: Karsten Schubert (*1985) ist wissenschaftlicher Assistent an der Professur für Politische Theorie, Philosophie und Ideengeschichte der Universität Freiburg. Seine Schwerpunkte liegen in der zeitgenössischen kritischen politischen Theorie und Sozialphilosophie, Rechtstheorie sowie der queeren und intersektionalen Theorie. Der Text ist im verfassungsblog.de/demokratisierung-durch-cancel-culture erschienen.