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Ob Konzerte oder OPs: Alles wird verschoben

Premieren, Urlaub und das Frauenfrühstück sollen 2022 stattfinden. Das wird eng im Kalender. Eine Betrachtung.

Von Karin Großmann
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Wohl dem, der noch einen Ausweichtermin oder -ort kennt! Doch merke: Auch Vorfreude hat ein Verfallsdatum.
Wohl dem, der noch einen Ausweichtermin oder -ort kennt! Doch merke: Auch Vorfreude hat ein Verfallsdatum. © www.plainpicture.com

Ob der Termin zu halten sein wird, weiß kein Mensch. Das blutige Königsdrama „Macbeth“ sollte im März 2020 in Dresden Premiere feiern, dann im Januar 2021, und nun ist die Rede von der Spielzeiteröffnung im Herbst 2022. Es ist der reinste Verschiebebahnhof, sagt Staatsschauspielchef Joachim Klement. Das Wort stammt aus Österreich und heißt, dass einzelne Wagen zu langen Güterzügen sortiert werden. Das ist ein umständliches und unrentables Verfahren. Deshalb werden Verschiebebahnhöfe zunehmend stillgelegt mit ihren Gleisanlagen, den Wassertürmen und Unterführungen. In der Corona-Wirklichkeit erlebt das Rangieren eine vertrackte Renaissance, nicht nur in sächsischen Theaterbüros.

Die Ehrenwerte Gesellschaft Bremen-Vegesack verschiebt den Fassbieranstich. München verschiebt die Weltleitmesse für Getränkehersteller. Osnabrück verschiebt die Tuning-Messe, obwohl das Programm mit „Benzin im Blut“ organisiert wurde, vermutlich mangels Fassbiers. Von manchen Ereignissen erfährt man jetzt erst, dass es sie gibt. Gaumeisterschaften für Rhythmische Sportgymnastik zum Beispiel. Sie werden im Schwarzwald einschließlich Frauenfrühstück und Gauwanderung verschoben, was gleich doppelt problematisch klingt. Manche Verschiebung ist vielleicht gar nicht so schlimm. Betroffene dürften das anders sehen. Tausende Gerichtsverfahren und Operationen werden hinausgezögert. Leider verjährt ein kaputtes Knie nicht. Im Schwarzwald hatten sie sich auf die Alternative zum Bauernfrühstück gefreut. Ohnehin sind es die erfreulichen Veranstaltungen, die es besonders hart trifft. Wer würde heute von einer Spaßgesellschaft reden wie in den Neunzigern? Spaß ist grad aus. Genuss und Vergnügungen werden im echten Leben rar, jedenfalls in Verbindung mit echtem Publikum. Publikum ist Mehrzahl und also ungesund.

Deshalb verschieben Künstler wie Andrea Bocelli, Rammstein, Mark Forster, Taylor Swift oder James Blunt ihre Großkonzerte, genauso wie Chris Norman, dabei wollte er doch auf der Tour seinen 70. Geburtstag feiern. Ein 75. Geburtstag wäre auch ein prima Anlass. Dann ist vielleicht wieder Platz im Kalender. Denn wer weiß, wie viele nachgeholte Nachholkonzerte die Zuhörer in einer Saison vertragen. Vom Bezahlen gar nicht zu reden. Mancher Glückspilz besitzt einen Schuhkarton voller Tickets, von denen es heißt, dass sie ihre Gültigkeit behalten. Sollten die Konzertarenen die monatelange Schließzeit nicht überleben, regelt die Veranstalterrückerstattungsrichtlinie den Rest. Um solche zusammengesetzten Hauptwörter werden wir im Ausland beneidet. Und natürlich um die konkrete Aussicht auf eine konkrete Strategie für ein schrittweises Irgendwas irgendwann. Darüber haben die teilweise frisch frisierten Regenten der Bundesländer diese Woche geredet. Auch der Comedian Luke Mockridge verschiebt seine Tour erneut, gastiert also nicht jetzt, sondern am 21. Mai, im Jahr 2022, in der Messe Dresden – vielleicht. „Wir werden die Vorfreude noch mal anschmeißen und den neuen Terminen entgegenfiebern“, sagt er. Leider hat auch Vorfreude ein Verfallsdatum.

Viele kennen das aus der eigenen Verwandtschaft. Das Feierverschieben hat sich als familiäres Brauchtum fest etabliert. Das holen wir alles nach? Von wegen. So lange hält sich der Sekt zum Hundertsten nun auch wieder nicht. Die Festansprache welkt dezent vor sich hin. Professionelle Hochzeitsberater fertigen Checklisten an für Paare, die ihre Party auf später verlegen wollen, damit Stehtischverleiher, Feuerschlucker, Blumenstreukinder und Schwiegermütter auch wirklich alle wie geplant dabei sein können. Für Brautjungfern dürfte es schwierig werden. Die Umplanung hat auch Vorteile. Man gewinnt Zeit. Man kann sich den Bund fürs Leben noch mal überlegen. Augen auf bei der Partnerwahl gilt bei Corona besonders. Wer monatelang in der spätbürgerlichen Kleinfamilie zusammenhockt, sollte sich mögen. Sonst besser gleich stornieren.

„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“ hat gute Chancen, zum ödesten Sprichwort des Jahres gekürt zu werden. Damit konkurriert der amerikanische Präsident Thomas Jefferson. Er eröffnete seinen Zehn-Punkte-Plan fürs tägliche Leben mit dem Grundsatz: „Was du heute kannst besorgen ...“ Mark Twain konterte: „Verschiebe nicht auf morgen, was genauso gut auf übermorgen verschoben werden kann.“ Der neue James Bond rangiert schon jetzt als meistverschobener Film ganz oben, mit einer sensationellen Rarität: „Keine Zeit zu sterben“ soll statt wie zuletzt geplant am 8. Oktober bereits am 30. September in Deutschland starten. Eine Woche früher! Eine Rückverschiebung würde jeden Bahnhofsvorsteher aus dem Gleis werfen.

Aber so glatt wie auf dem Verschiebebahnhof läuft die Sache ohnehin nicht. Die Wagen stehen im Stau. Zu den längst geplanten Ausstellungen, Theateraufführungen, Lesungen und Konzerten kommen die nachgeholten hinzu. Der Mai könnte zweimal mehr Tage haben und wäre trotzdem überfüllt. Ulrike Lorenz, Chefin der Klassik Stiftung Weimar, sprach neulich bei der Jahrespressekonferenz von einer „Veranstaltungsknautschzone“. Museen kommen mit dem Bildereinräumen und -ausräumen kaum hinterher. Dazwischen ereignet sich manche Schau unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Hand hoch, wer Raffaels Madonnen im Dresdner Zwinger nicht nur beim virtuellen Rundgang betrachtet hat. Die Sonderausstellung wurde im Dezember eröffnet und läuft bis Anfang Mai. Das könnte knapp werden. Leihgaben lassen sich nicht beliebig lange behalten. Kunstsammlungschefin Marion Ackermann spricht von „verlorenen Ausstellungen“.

Das Verschieben, Verlegen, Vertagen hat Grenzen. Wer die ersten Schritte der Enkelin verpasst oder den letzten Schultag oder die Reparatur des Abflussrohrs, dem ist die nächste Spielzeit kein Trost. Lady Macbeth hat es gewusst: „Nicht in die ferne Zeit verliere dich. Den Augenblick ergreife, der ist dein.“ Aber wohin mit dem Augenblick auf dem Abstellgleis.