Gibt es "den ostdeutschen Film" überhaupt noch?

Er kann „Tatorte“ ebenso wie große Filmkunst und zeigt das etwa mit „NSU“, dem Terror-Drama „Je suis Karl“ und „Lieber Thomas“, dem viel gerühmten Biopic über den ostdeutschen Schriftsteller Thomas Brasch. Dafür hat der 1971 in Dresden geborene Drehbuchautor Thomas Wendrich unlängst die Lola gewonnen, den höchsten deutschen Filmpreis. Wir sprachen mit dem Wahlberliner über Schwarz-Weiß-Malerei in Filmen von Westdeutschen über die DDR, über Protest- und Wutbürger und fragen: Gibt es „den ostdeutschen Film“ überhaupt noch?
„Rabiye Kurnaz“ und „Lieber Thomas“ haben bei den Lolas abgeräumt. Viele werten das als einen Erfolg für „den ostdeutschen Film“ – Sie auch?
Ja, das ist ein Erfolg für Filmschaffende aus Ostdeutschland. Wir haben so lange Filme über den Osten ertragen, die mit dem Osten nur so viel zu tun hatten, wie der Westen darüber wusste. Das war leider meistens sehr wenig, oft war das Emotionale falsch aufgestellt, die Geschichte krude aufgezäumt. Das waren ja nicht alles schlechte Filme, im Gegenteil. Aber ständig mussten wir dieses gängige Schwarz-Weiß-Bild ertragen.

Wie zum Beispiel in …?
„Das Leben der Anderen“. Das Schlimmste in dieser Richtung, das mir widerfahren ist. Toll verfilmt, großartig gemacht – nur eben in Bezug auf die DDR reiner Karl May. Außer der Schwarz-Weiß-Dramaturgie stimmt da nichts. Ich habe das gesehen und gefühlt, aber konnte das nur schwer erklären. Ich habe viel darüber nachgedacht: Wo kommt mein Gefühl her?
Aus dem Gefühl mangelnder Fairness?
Ich glaube, dass diese Schwarz-Weiß-Malerei den Menschen und der Geschichte eben nicht gerecht wird. Wie auch bei „Nahschuss“ über den letzten Hingerichteten der DDR. Der Film redet sich ein bisschen raus und sagt: Wir haben einen Film gegen die Todesstrafe gemacht. Ich finde, da ist „Nahschuss“ auch gut und schlüssig. Aber er geht fehl. Er kratzt sich aus den schwarzen Geschichten noch das Schwärzeste raus, kippt das zusammen und macht daraus im Grunde genommen ein DDR-Sittengemälde ohne Farbe.

Hat das Unterkomplexe vieler Filme über die DDR auch damit zu tun, dass es scheinbar nicht ohne Stasi geht?
Das denke ich nicht. Die Stasi schwirrt da überall herum, weil die Stasi im Film immer den Staat meint und eine große Gegnerschaft impliziert. Das ist halt Kino und völlig normal. Aber es trägt nicht zum Verständnis der Stasi bei. Denn das sind eben nicht die anderen gewesen und wir nicht die einen. Wir alle waren Teil eines Systems, das mit der Staatssicherheit untrennbar verbunden war. Wir haben neben und mit den Menschen gelebt, die bei der Stasi waren, wir mussten damit umgehen. Aber sie war niemals in unserem Leben omnipräsent und hat über allem geschwebt.
Also keine Filme mehr über die Stasi?
Doch, natürlich, eben weil sie untrennbar dazugehörte. Aber nicht so, wie es meistens dargestellt wird. Und mich stört es total, dass diese Filme dann auch noch sozusagen Schulstoff werden, und ich dann meinen Kindern erklären darf, dass diese Schwarz-Weiß-Bilder so nicht stimmen.
Umso lieber haben Sie „Lieber Thomas“ geschrieben?
Das war nicht das Hauptmotiv, aber es steckt natürlich mit drin. Vor allem wollten wir einen Film machen, der komplexer über Deutschland redet. Dass wir über die innere Auseinandersetzung mit dem DDR-Schriftsteller Thomas Brasch eine deutsch-deutsche Geschichte erzählen können, war der Reiz. Dass wir also jemanden haben, der 1945 geboren wird in England und mit den Eltern in ein neues Deutschland hineinwächst, wo auch getanzt und gefeiert und geflirtet wird. Wo die Menschen Spaß im Leben hatten. Und wenn ich es richtig verstehe, wollte Thomas Brasch viel mehr Sozialismus als seine Eltern, und nicht diese Verzwergung der Idee. Ihm war die DDR zu eng, so wie ihm auch die BRD zu eng war. Das Gegenteil von Enge hat er immer eingefordert, in seiner Lyrik und seinem Filmen. In seinen Werken sind die Menschen meist rebellisch und aufmüpfig.

Heute, ein halbes Jahrhundert später, würde man ihn vielleicht einen ostdeutschen Wutbürger nennen ...
Das würde ich nicht vergleichen. Dafür sind mir die Wutbürger zu unterkomplex. Wut ist eine interessante Emotion. Aber wenn nur Wut im Raum steht, zerstören wir unser Zusammenleben. Das ist sinnlos. Da muss schon mehr als nur Wut dahinterstehen. Braschs Wut war konstruktiver. Manchmal frage ich mich: Was würde der eigentlich zu diesem widerwärtigen Krieg sagen, der jetzt in Europa tobt und der immer näher an uns heranrückt?
Und? Was hätte er Ihrer Meinung nach gedacht?
Vielleicht würde er frohlocken über diesen entsetzlichen Krieg. Obwohl … Nein, nicht über den Krieg. Sondern darüber, dass dieser Krieg die Widersprüche unseres Lebens, so krass sichtbar macht. Brasch würde für sich in Anspruch nehmen, dass die Kunst und wir Künstler die Aufgabe haben, diese Widersprüche darzustellen, sodass wir anhand dieser Widersprüche uns, unser Leben und die Zusammenhänge besser begreifen.
Zum Beispiel, dass man pazifistisch denken und trotzdem für Waffenlieferungen an die Ukraine sein kann?
Zum Beispiel.

Ich hatte Ihnen anfangs eine Frage zu „dem ostdeutschen Film“ gestellt. Gibt es den überhaupt?
Hm … ach, ich glaube, ich würde auf diesem Ostdeutschen gar nicht so rumreiten. Mir ist das zu eng. Ich bin mit Leib und Seele europäisch eingestellt. Ostzonal, ostdeutsch, mitteldeutsch … nee, da sage ich eher: Ich bin Dresdner. Das würde mir besser passen als dieses Ostdeutsche. Das grenzt zu viel aus, was zu meiner Persönlichkeit gehört. Ich denke auch, dass „Rabiye Kurnaz“ und „Lieber Thomas“ viel mehr sind als nur ostdeutsch.
Das Etikett als Abstempelung?
Das Problem ist: Gibt es einen ostdeutschen Stoff, fragen sich Redaktionen und Produzenten: Wer sind die ostdeutschen Regisseure, die so was verfilmen können? Meistens fallen ihnen dann gerade mal zwei Leute ein, und beide heißen Andreas (Andreas Dresen, Regisseur von „Rabiye Kurnaz“, und "Lieber Thomas"-Regisseur Andreas Kleinert, d. Red.). Das halte ich für armselig. Wir ostdeutschen Autorinnen und Autoren sind vielleicht noch an einem anderen Menschenbild geschult, wir haben eine gewisse Sprache der DDR noch mitbekommen und eine bestimmte Haltung zur Welt. Wir sind auf eine Zukunft vorbereitet worden, die nicht stattfindet. Aber welche Zukunft findet denn eigentlich statt?
Also weg mit dem Label „Ost-Film“?
Das würde ich gerne wieder in die Mottenkiste entlassen. Wir haben die ostdeutschen Filme der Defa, wir hatten ostdeutsche Regisseure, die aber alle, ob Konrad Wolf oder Frank Beyer, für sich die Welt in Anspruch genommen haben, nicht nur den Thüringer Wald oder Rügen. Die haben viel weiter gedacht und viel größer. Wir jüngeren ostdeutschen Filmemacher können sicher jede Menge und komplex über den Osten berichten, weil wir ihn noch erlebt haben. Aber „ostdeutscher Filmautor“ – ich weiß nicht. Ich komm ja eher aus einer ganz anderen dramaturgischen Schule. Nee, das ist mir wirklich zu eng.

Das heißt, Sie suchen nicht gezielt nach den Oststoffen, Sie finden halt manchmal welche oder werden danach gefragt? Wie nach der Geschichte vom Werdegang der NSU-Attentäter?
Ja, genau! So wie jetzt die neue Serie, an der ich gerade schreibe, über die Ermordung des Deutsche-Bank-Vorstandes Alfred Herrhausen, der ein Finanzierer des Verkaufs der DDR war und mit Bundeskanzler Helmut Kohl zusammen ein großer finanzieller Unterstützer von Michail Gorbatschows Kurs. Und als am 24. Februar der russische Überfall auf die Ukraine in unser Bewusstsein rückte, ist dieser Stoff, ohne dass ich ein Wort verändert habe, zehnmal so spannend geworden. Weil auf einmal die Frage im Raum steht: Was wurde eigentlich in den letzten 30 Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion versäumt und falsch gemacht? Mal ganz abgesehen von Putins barbarischem Wahnsinn: Es gab irgendwann den Beginn einer bestimmten Entwicklung. Und diese Entwicklung hing auch mit dem Ende der DDR zusammen. Und das habe ich nun wirklich erlebt.
Es gibt viele Kulturschaffende, die sich darum bemühen, dass der Osten sichtbarer wird, auch die Ostdeutschen und die ostdeutsche Geschichte. Ist das auch für Sie ein Anliegen?
Ein grundsätzliches Bedürfnis danach habe ich nicht. Auch wenn zwei Drittel des Films in der DDR spielen: An „Lieber Thomas“ hat mich vor allem die Geschichte dieses Menschen mit seinen Zerrissenheiten und Sehnsüchten interessiert. Also die Suche nach all diesen Widersprüchen, die in den Menschen sind. Egal, ob sie aus dem Osten oder aus dem Westen kommen.
Aber die komplexeren Filmblicke auf den Osten sind Ihnen schon wichtig, wie sie eingangs sagten?
Natürlich. Und wir haben sicherlich alles Recht der Welt und vielleicht auch eine gewisse Pflicht, über den Osten zu reden und bestehende Urteile und Film-Bilder über den Osten infrage zu stellen. Aber jetzt daherzukommen und zu sagen, ab jetzt darf niemand mehr über den Osten sprechen und erzählen als wir Ostdeutsche, das widerstrebt mir total. Das wäre mir viel zu kleingeistig, zu puppenstubenhaft gedacht.