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Rammstein beschwören Inzest, Angst und dunkle Nächte

Vieles auf dem neuen Album der harten Jungs aus Berlin klingt nach dem Ende einer Ära. Doch die schmerzhaften Riffs auf „Zeit“ können täuschen.

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Auf „Zeit“ geht es Rammstein viel um Vergänglichkeit. Nach einem baldigen Band-Aus klingt das Album „Zeit“ jedoch mitnichten.
Auf „Zeit“ geht es Rammstein viel um Vergänglichkeit. Nach einem baldigen Band-Aus klingt das Album „Zeit“ jedoch mitnichten. © Rammstein/Universal Music

Von Gerd Roth

Für einen Skandal dürfte „Dicke Titten“ kaum reichen. Auf dem neuen Album „Zeit“ platziert Rammstein den Titel als Traumvorstellung eines einsam alternden Wichsers, dessen Fantasien eher lächerlich als lustvoll klingen. Zum Mitgrölen im Stadionkonzert mag es den einen oder anderen wohl eher männlichen Fan animieren. Mehr Empörungsmaterial ist kaum drin im achten Studio-Album der harten Berliner Jungs. Am Freitag (29.4.) erscheinen die elf Titel, rund 45 Minuten musikalisch erwartbare Rammstein-Songs - was viele aus der riesigen weltweiten Fangemeinde freuen wird. Doch erstaunlich viele Lieder drehen sich um Ende, Abschied, Alter, schwindende Zeit.

Schon wird in einschlägigen Foren diskutiert, ob und was davon wohl als Zeichen zu deuten ist. Das bürgerlich-sensible Gemüt ist bei Rammstein auch unabhängig von der Musik deutlich Härteres gewohnt. Das titellose Vorgänger-Album bewarb die Band vor drei Jahren mit einem kurzen Video-Ausschnitt aus dem Song „Deutschland“: drei Band-Mitglieder vor der Exekution, in einer an KZ-Insassen erinnernden Kluft. Der Aufschrei war groß: um mangelnde Empathie für Opfer ging es, um Werbung auf Kosten von Nazis ermordeter Juden. Solche Reaktionen sollen sogar bei den sonst über Aufregung lachenden Musikern große Nachdenklichkeit bewirkt haben.

Sänger Till Lindemann während des letzten Rammstein-Konzerts Konzerts in Leipzig. Die Tickets für den 21. Mai an der Pleiße sind längst ausverkauft.
Sänger Till Lindemann während des letzten Rammstein-Konzerts Konzerts in Leipzig. Die Tickets für den 21. Mai an der Pleiße sind längst ausverkauft. © Ronald Bonß

Corona ist härter als Rammstein

Nun also erstmal ohne Skandal-Tamtam. Das ganze Album ist ohnehin eine Konsequenz von viel Zeit für Reflexion. Auch Rammstein ist nicht härter als Corona. Das Virus bremste die erfolgreiche Stadiontour aus. Mehrfach verschobene Auftritte bedeuteten auch Freiraum in bereits als gemeinsam verplanter Zeit einer Gruppe, deren Mitglieder sich in den fast drei Jahrzehnten Bandgeschichte schon auch mal das eine oder andere Jahr am Stück aus den Augen gehen.

Statt in ausverkauften Stadien trafen sich Sänger Till Lindemann (59), die Gitarristen Richard Kruspe (54) und Paul Landers (57), Bassist Oliver Riedel (51), Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz (55) und Schlagzeuger Christoph Schneider (55) Ende 2020 im Studio „La Fabrique“ im französischen Saint-Rémy-de-Provence und nahm neue Songs für ein Album auf. Die seit Jahren international erfolgreichste deutsche Band scheint sich weiter auf Zustimmung verlassen zu können: Die beiden Single-Auskopplungen „Zeit“ und „Zick Zack“ landeten nach Veröffentlichung jeweils umgehend auf Platz eins der Charts.

Knackige Lederhosen und Dirndl mit Tiefblick

Viel Raum lässt Rammstein auf diesem Album Keyboarder Lorenz und seinen mitunter verspielten Synthesizer-Phrasen. Wo einzelne Songs in Pop-Sphären zu gelangen drohen, riegeln Kruspe und Landers mit ihren hämmernden, oft stakkatohaften Gitarren-Riffs ab. Einige Passagen etwa in „Gift“, „OK“ oder „Angst“ erinnern dabei sehr mächtig an alte Rammstein-Härte. Nochmal zurück zu den großen weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Der Song darüber kommt als Persiflage daher, Blasmusik bestimmt das Intro, es herrscht Festzeltstimmung, knackige Lederhosen und körperbetonende Dirndl scheinen nicht weit.

Schneider beendet das mit brutalem Schlagzeug und übergibt an harte Gitarren. Vom fröhlichen Dirndl lässt der Song nur noch die „Dicken Titten“ im Refrain übrig. Das Lied ist auch ein Beispiel dafür, wie die Band bürgerliche Doppelmoral durch platte Benennung vorführen kann. Auf „Zeit“ geht es viel um Vergänglichkeit. Es wird grotesk, wenn „Zick Zack“ den Kult um Körper und Schönheitsoperationen persifliert. Ziemlich pathetisch ist der Titelsong des Albums („bitte bleib steh’n, bleib steh’n“), Gevatter Tod ist schon ganz nah.

Paul Landers und Richard Kruspe sorgen für das harte Gitarren-Brett.
Paul Landers und Richard Kruspe sorgen für das harte Gitarren-Brett. © dpa

„Niemand traut mir, nicht mal ich“

„Nach uns wird es vorher geben“, singt Lindemann, oder „aus der Jugend wird schon Not“. In „Armee der Tristen“ gehen die Traurigen im „Gleichschritt gegen Glück“ hinein in gemeinsame Tristesse: „Wir wollen zusammen traurig sein“. Vieles würde passen für ein finales Album. „Wenn unsere Zeit gekommen ist, dann ist es Zeit, zu geh’n / Aufhören, wenn’s am schönsten ist, die Uhren bleiben steh’n“, heißt es. Im letzten und sehr getragenen Song „Adieu“ heißt es zwar „Keine Angst, wir sind bei dir“. Aber dann gleich: „Ein letztes Lied, ein letzter Kuss, kein Wunder wird gescheh’n.“

All das kann auch wieder einer der Gags der Band sein, ein Spiel von Erwartung und Enttäuschung. Im Song „Lügen“ heißt es zudem: „Niemand traut mir, nicht mal ich.“ Und da ist schließlich eine Tour zu Ende zu spielen. Bei Rammstein ist das immer - verbunden mit viel Feuerwerk und Nebel, Böller, Licht - ein sehr, sehr langer Kraftakt. Die aufwendige Show muss wohl noch angepasst werden. Die Fans werden kaum ein Konzert ohne Songs des neuen Albums akzeptieren. Auf der Bühne soll es schon sehr bald weitergehen. Auftakt der längst ausverkauften Deutschland-Konzerte ist am 20. und 21. Mai in Leipzig.

Rammstein: Zeit (Universal)