Von Oliver Reinhard und Norbert Grob
Menschen, die den Film gesehen haben, schwärmen von den ästhetischsten und schönsten Bildern der untergehenden DDR. Hierher war die Regiegröße Jean-Luc Godard 1990 gereist, um im Auftrag eines französischen Senders einen von mehreren 50-Minütern über das sterbende Land zu drehen. „Allemagne Année 90 Neuf Zeró“ hieß das Projekt – „Deutschland im Jahr 90 Neun Null“ –, „Solitudes“ der Beitrag von Godard; „Einsamkeiten“.
Ein Film eben über die Einsamkeit der Menschen im Osten sollte es werden, die Pläne gingen schon auf 1988 zurück. Dafür reaktivierte er noch einmal die Figur des in den Sechzigern Kinokult gewordenen CIA-Agenten Lemmy Caution. Der reiste von Stralsund über Potsdam, Berlin, Leipzig, Bitterfeld und Weimar nach München. Godard erfand in „Solitudes“ ein Deutschland, das aus Hegel, Goethe und Hölderlin zusammengesetzt ist und tiefste Romantik ebenso atmet wie hohe Staatsanbetung.
Die SED ließ ihn nicht ins Kino
Der Film wurde kein Erfolg. Kaum jemand sah ihn, kein Kino nahm ihn ins reguläre Programm, es gibt eine DVD. So besehen, hat sich die DDR Jean-Luc Godard auch weiterhin verweigert; er gehörte zu jenen Filmemachern, deren Werke die SED-Kultur nie in die Lichtspielhäuser ließ, nur in Filmklubs und an Filmhochschulen. Zu experimentell? Auf falsche Weise links? Das ist nicht mehr zu ermitteln. Am Dienstag ist Jean-Luc Godard, einer der einflussreichsten Regisseure überhaupt, im Alter von91 Jahren gestorben.
Schon sein Debüt „Außer Atem“ setzte 1960 Maßstäbe: Die Liaison zwischen einem kriminellen Hallodri (Jean-Paul Belmondo) und einer amerikanischen Studentin (Jean Seberg) ist ohne künstliches Licht und überwiegend mit der Handkamera gedreht, um schnell und spontan auf das Spiel der Darsteller reagieren zu können. Der Film ist voller ungewöhnlicher Bilder, geprägt von Distanz, das Brüchige, Zerrissene, Nicht-Perfekte dominiert.
Er wollte sein Publikum verstören
Godard war der Radikale der Nouvelle Vague, der „neuen Welle“ des französischen Kinos. In seinen folgenden Filmen wurden die Dissonanzen immer stärker, in „Die Verachtung“ (1963), „Elf Uhr nachts“ (1965), „Weekend“ (1967). Godard mutete dem Publikum sogar Sprünge und falsche Anschlüsse zu, um seine Bilder vom Einheitlichen abzugrenzen, zu verstören, die Sinne zu aktivieren. Seine Zuschauer sollten nicht länger akzeptieren, was sie gewohnt waren, sondern die Regeln infrage stellen, nach denen normalerweise in Unterhaltungsfilmen inszeniert wird.
Geboren wurde Jean-Luc Godard 1930 in Paris, wuchs aber in der Schweiz auf, wo sein Vater als Arzt arbeitete. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging er zurück nach Paris, begann ein Studium, besuchte die Cinématheque Française. In den Fünfzigern schrieb er übers Kino für die heute legendäre Zeitschrift „Les Cahiers du cinéma“. In der Cinématheque traf er rasch Gleichgesinnte: François Truffaut, Jacques Rivette, Eric Rohmer, auch Claude Chabrol (die im Gegensatz zu ihm in den DDR-Kinos liefen). Sie redeten und schrieben viel und machten schnell eigene Filme, die als Nouvelle Vague weltbekannt wurden.
Film als marxistisch-maoistische Revolution
Godards damalige Frau Anna Karina übernahm in mehreren seiner Werke die Hauptrolle. Ende der Sechziger hörte Godard auf, fürs Kino zu drehen, radikalisierte sich politisch und trat der Groupe „Dziga Vertov“ bei, die das Filmen in den Dienst einer politischen Revolution im marxistisch-maoistischen Sinn stellte. Erst 1980 kehrte er auf die große Leinwand zurück. Es ging Jean-Luc Godard um eine stete Erneuerung des Kinos, eine neue Sprache des Films, eine neue Sicht auf die Welt.
Vielschichtig waren seine Filme von Anfang an. Seit 1980 aber, mit „Rette sich, wer kann (Das Leben)“, „Vorname Carmen“ (1983) und „Detective“ (1985) entwickelten sie eine neue Dimension: Weiterhin gibt es die Geschichten, die parallel ablaufen, sich ineinander verknoten und aufeinander beziehen. Aber nun verstärkt auch Abwege, Nebenwege, Umwege, die das Sichtbare prägen und gleichzeitig reflektieren.
Pornos und Politik
Seine Filme präsentierten, und da ist sein Spätwerk „Nouvelle Vague“ (1990) vielleicht der meisterliche Höhepunkt, ein Denken in Bildern über Bilder vom Zustand der Gesellschaft. Godard wurde oft beschrieben als Essayist und Philosoph des Films, als Elegiker der Moderne, als permanenter Revolutionär, immer auf der Suche nach dem Geheimnis des Kinos.
Doch so talentiert er als Künstler war, so schwierig war er als Mensch. Mit unzähligen Kolleginnen und Freunden zerstritt Godard sich, betrat als Linker politisch reaktionäre Abwege und verließ sie wieder, stand auf Pornos und verteidigte die Liebe inklusive Sex zwischen Kindern und Erwachsenen. Auch das Wirre war ein Teil von ihm; die meisten seiner insgesamt über 100 Filme sind eher kryptisch. Was nichts daran ändert, dass Jean-Luc Godard einer der größten Erneuerer in der Geschichte des Kinos bleibt. (mit epd)