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So feiert Dresden seinen berühmtesten Kapellmeister

Zwei berührende Konzerte zelebrieren Genie und Größe von Heinrich Schütz. Der Ausnahmekomponist und Hofkapellmeister starb vor 350 Jahren.

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Begnadeter Komponist und Rekordhalter: Heinrich Schütz (1585 – 1672) war über ein halbes Jahrhundert Hofkapellmeister in Dresden.
Begnadeter Komponist und Rekordhalter: Heinrich Schütz (1585 – 1672) war über ein halbes Jahrhundert Hofkapellmeister in Dresden. © Universität Leipzig

Von Karsten Blüthgen und Jens-Uwe Sommerschuh

So unerschütterlich in diesem Amt gefragt ist niemand mehr. Nachdem Heinrich Schütz, im heutigen Bad Köstritz geboren, von einem Kasseler Fürsten entdeckt und gefördert, 1617 an den Dresdner Hof berufen worden war, ließ das Wettiner Kurfürstenhaus den überragenden Musiker lebenslang nicht los. Schütz starb 1672 hochbetagt mit 87 Jahren, nach mehr als fünf Dienstjahrzehnten als Hofkapellmeister. Zum Vergleich: Christian Thielemann hätte bis 2067 Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle bleiben müssen, um in Dresden auf die Amtszeit seines Altvorderen zu kommen.

Der Nachwelt bleiben das überlieferte Vokalwerk und eine daraus gewachsene Erkenntnis: Schütz gilt als erster deutscher Komponist von europäischer Bedeutung. Unvergleichlich ist seiner Kunst, das Wort bildhaft in Musik zu übersetzen. Des Meisters wird im 350. Jahr nach seinem Tod besonders gedacht. Neben dem jährlich gefeierten Schütz Musikfest veranstaltet der Verein Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen im Herbst Themenfestivals unter dem Motto „Vom Leben – Über Leben“. Zwei herausragende Konzerte bot dieses Wochenende in Dresden. Beide stellten Schütz durchdacht in Zusammenhänge.

„Feget den alten Sauerteig aus“

Beim Festkonzert „Der Herr ist mein Hirt“ am Freitag in der Kreuzkirche inszenierten Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704 unter Václav Luks einen klangprächtigen, rhetorisch brillanten Dialog zwischen Schütz und Monteverdi. Persönlich begegnet waren sich die Herren wohl nie – in Venedig wäre es möglich gewesen. Ihre packende Art aber, geistliches Wort zu vertonen, macht sie auch stilistisch zu Zeitgenossen. Beide Komponisten hatten die „neue italienische Manier“, die im frühen 17. Jahrhundert aufkam, verinnerlicht und vorangetrieben.

Im leidenschaftlichen Auftritt der Prager Alte-Musik-Spezialisten waren Schütz und Monteverdi sogar als Seelenverwandte zu erleben. Den Einstieg bot das geistliche Konzert für Singstimmen und Instrumente „Der Herr ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln“ auf Psalm 23, das Schütz 1628 unter dem Eindruck seiner zweiten Venedig-Reise schrieb. Luks gestaltete jedes Wort akribisch, jede Geste bezwingend sprechend, ließ Violinen und Zinken über dem Generalbass frühlingshaft sprießen. Monteverdis „Dixit Dominus“ nahm in seiner dramatischen Deklamation gefangen. Koloraturpartien gelingen selten so entfesselt, spielerisch, beherrscht zugleich. Geradezu läuternde Wirkung entfaltete Schütz‘ Konzert „Feget den alten Sauerteig aus“.

Die riesige Kreuzkirche lässt sich mit einem derartigen Angebot kaum füllen – die Anwesenden aber erlebten 75 Minuten Musik, die direkt ins Herz fuhr, inklusive Zugabe, nochmals „Lasset uns doch den Herren, unsern Gott, loben“. In der Tat: Danke für diesen Abend.

Trauermusik für einen verstorbenen Landesherren

Als „Trostmusik“ firmierte das Programm des Sächsischen Vocalensembles am Sonnabend in der Dresdner Annenkirche. Matthias Jung, der den Chor seit der Gründung 1996 leitet, koppelte die Musikalischen Exequien, von Schütz 1636 als Trauermusik für den im Jahr zuvor verstorbenen Geraer Landesherren Heinrich II. Reuß verfasst, mit einer eigens geschaffenen zeitgenössischen Komposition, die am Sonnabend ihre Uraufführung feierte. Jung hatte den Leipziger Komponisten Bernd Franke gebeten, ein Werk für gemischten Chor zu schreiben, das die Brücke vom Schaffen des Altmeisters in unsere Zeit schlägt.

Der wiederum gewann den Dichter und Theologen Christian Lehnert für das Vorhaben. Lehnert hat einen poetischen Text geformt, der Schatten und Licht, Trauer und Tröstung thematisiert, und dabei Gedanken des kühnen Schütz-Zeitgenossen Jakob Böhme eingebunden: „Und die Zeit ist die äußere Welt. Das ist auch der äußere Mensch. Und der innere Mensch ist die Ewigkeit.“ Im Gespräch vorm Konzert betonte Franke, ihm und Lehnert gehe es weniger um das Mit-Leiden als darum, den Blick zu weiten.

Engelsgleiche Schönheit trifft auf irdisches Entsetzen

Trost versteht sich hier nicht als Handlungsersatz, sondern als Wahrnehmungshilfe: Was habe ich verloren? Wie lebe ich weiter, ohne mich selbst zu verlieren?Die zwischen Klagen, Raunen und Wispern changierenden Stimmen loten die rhythmischen Freiräume von Frankes auch gesangstechnisch höchst ambitioniertem Werk aus, das „aleatorisch“ mit dem Zufall spielt, „also mit maximaler Polyphonie“, wie er selbst sagt. Engelsgleiche ätherische Schönheit trifft auf irdisches Entsetzen, Wörter wie „Schwingen“, „Pochen“, „Schein“ und „Schwebe“ spannen das elastische musikalische Geflecht.

Aufs Beeindruckendste überlagern sich Geist, Gefühl und Klang – ein überzeugender Bogen von der Renaissance in ungewisse Zukünfte. Auch mit den erwähnten Exequien und drei Schütz-Motetten aus der 1648 veröffentlichten „Geistlichen Chormusik“ zelebrierte das Vocalensemble, begleitet von Laute, Orgel, Gambe und Violone der Batzdorfer Hofkapelle als Basso continuo, seine reine, erhabene und doch emotional ans Wort gebundene noble Stimmkultur. Ein berührendes Konzert von wahrlich tröstlicher Schönheit.