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Starkes Theater im ehemaligen Gefangenenlager

Ungewöhnliches Stück an ebensolchem Ort: Das Görlitzer Theater spielt „Simplicius Simplicissimus“ im ehemaligen Lager Stalag in Zgorzelec.

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Patricia Bänsch ist Simplicissimus: ergreifend und bewegend:
Patricia Bänsch ist Simplicissimus: ergreifend und bewegend: © Pawel Sosnowski/pawelsosnowski.c

Von Jens Daniel Schubert

Simplicissimus, der Einfältigste, heißt der Protagonist aus dem Bauernkrieg. Karl Amadeus Hartmann komponierte aus der Geschichte von Grimmelshausen eine „Entwicklung aus dem deutschen Schicksal“. Die 1947 uraufgeführte Oper „Simplicius Simplicissimus“ wurde während der Nazizeit komponiert. Ihr Schöpfer vergrub seine Noten in Pfarrers Garten und überlebte selber im Untergrund. Er erzählt vom Bauernjungen, der durch die Wirren, Abartigkeiten und Brutalitäten des Dreißigjährigen Krieges getrieben wird, mit klarem Bezug zu der Bestialität, die er selber 300 Jahre später erlebte. Die beeindruckende Premiere in Görlitz/Zgorzelec war am Samstag, das Publikum reagierte zunächst betroffen, dann begeistert.

Ort der Barbarei und der Hoffnung

Manchmal werden aus Unfällen Glücksfälle. Görlitz’ Theater, wegen einer Löschwasserflutung unbespielbar, braucht alternative Spielstätten. Hier auch ein neues Regieteam. So überzeugte Dramaturg André Meyer als Regisseur und Ausstatter. Und man fand einen Ort wie geschaffen für Stück und Thematik, das ehemalige Stalag VIII im polnischen Teil der Doppelstadt. Ein Kriegsgefangenenlager, dass schon vor Beginn des Krieges gebaut wurde. Ein Ort der Barbarei und der Hoffnung, hat doch der kriegsgefangene französische Komponist Messiaen hier sein „Quartett für das Ende der Zeit“ geschrieben. Mit einem Europäischen Begegnungszentrum wird an die Gräuel der Nazis erinnert.

Man erlebt im Saal der Gedenkstätte eine Bauernkriegsgeschichte als Folie des Weltkrieges. Vor den Stuhlreihen eine Spielfläche, ein Flügel, Laub und Notenblätter auf dem Boden. Dahinter das Kammerorchester aus Musikern der Neuen Lausitzer Philharmonie. Rechts der Zuschauer und auf der Galerie über dem Orchester stehen Schautafeln der Ausstellung zur Geschichte des Stalag, die hier sonst zu sehen ist. Der Sockel der Galerie und die Wand hinter den Musikern dient als Projektionsfläche für Videos, die aus historischen Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg und Aufnahmen aus dem das Lager umgebenden Wald von Raphael Howein installiert wurden.

Die Geschichte beginnt mit Stefan Bley als bedächtigem, lebenserfahrenem Sprecher. Es ist der Komponist, der seine Geschichte erzählt. Als „Bub“, der ahnungslos in die Gewalt des Krieges eingesogen wird, trägt Patricia Bänsch einen ähnlich grauen Anzug. Auch der Einsiedel, der Mann, der den Elternlosen aufnimmt, bildet und prägt und ihm den charakterisierenden Namen gibt, hat ein solches Kostüm. Ihnen gegenübergestellt sind die Militärs und die Herrschenden. Heruntergekommene Wehrmachtsuniformen, derangierte Abendgarderobe, bleiche Masken mit fürchterlichen Wunden und tiefen Augenhöhlen: Ein Panoptikum einer von Untergang und Verfall gezeichneten Gesellschaft. Aus der Spannung zwischen dem Krieg vor dreihundert Jahren, der zwei Drittel der Deutschen vernichtete, und dem videopräsenten Weltkrieg lebt die Geschichte. Der Flügel ist gleichzeitig eine Art Hochbeet, hier werden die Opfer wie auch die Notenblätter begraben. Eine Saat für die Zukunft.

Patricia Bänsch ist Simplicissimus. Ergreifend und bewegend spielt sie den mit Unfassbarem Konfrontierten, lässt sie die Ambivalenz aufscheinen, zwischen Einfalt und Weisheit als Ausdruck tiefer Menschlichkeit. Beeindruckend hat Elise de Heer als Choreografin die Brutalität in eine Körpersprache übersetzt, die klar und stark, aber nie vordergründig ist. Musikalisch ist die eindrucksvolle Komposition bei Ulrich Kern in besten Händen. Die Sänger aus Solistenensemble und Chor sind szenisch wie musikalisch präsent. Die Einheit von Spielort, Bildlösung, Spiel und musikalischer Interpretation macht den Abend zum außergewöhnlichen Ereignis. Manchmal werden aus Unfällen Glücksfälle.

Wieder: 11., 18. und 24. Juni; Kartentel. 03581 474747