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Von Dresden auf die „Titanic“

Ein ehemaliger SZ-Redakteur hat die Geschichte der Deutschen an Bord des Unglücksschiffes recherchiert.

Von Oliver Reinhard
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Wer waren die Deutschen auf dem Luxusdampfer Titanic?
Wer waren die Deutschen auf dem Luxusdampfer Titanic? © dpa Bildfunk

Ob sie einander jemals begegnet sind, ist unklar. Zwei Orte aber verbanden die Schicksale von Henriette Amalie Gieger und Ludwig Müller. Zum einen Dresden, wo die 1866 in Ostpreußen geborene Gieger um 1900 wohnte und Müller zur Welt gekommen war. Dann noch einmal, für ein paar Tage, die letzten im Leben Ludwig Müllers. Als die „Titanic“ am 10. April 1912 den Hafen von Southampton verließ, waren beide an Bord. Amalie Gieger als Zofe der wohlhabenden Eleanor Wiedener, Müller als Kellner in der Dritten Klasse. Vier Tage darauf kollidierte das 46.000-Tonnen-Schiff südlich von Neufundland mit einem Eisberg, sank gut zwei Stunden später und zog fast 1.500 Menschen mit sich hinab. Wenig mehr als 700 überlebten.

Geborgen mit Pelzmantel und Schmuck

Wie so viele der Frauen in den höheren Klassen überlebte Gieger mit ihrer Dienstherrin die Katastrophe. Wie die meisten Besatzungsmitglieder ging Müller mit „seinem“ Schiff unter. Sie waren zwei von 22 Deutschen an Bord der „Titanic“. Mehr als 20 Jahre hat der Journalist und ehemalige SZ-Redakteur Jens Ostrowski ihnen hinterherrecherchiert. Jetzt ist sein Buch darüber erschienen: „Die Titanic war ihr Schicksal – Die Geschichte der deutschen Passagiere und Besatzungsmitglieder“.

Auf 180 üppig bebilderten und aufwendig gestalteten Seiten entfaltet Ostrowski das Panorama der berühmtesten Katastrophe der Schifffahrtshistorie. Er zeigt auch, dass die Gruppe der Deutschen, so klein sie war, die gesamte Bandbreite der Bordgesellschaft abbildet. Der gebürtigen Deutschen, muss man einschränken, denn einige waren 1912 längst in die USA ausgewandert oder nach Großbritannien. Darunter zwei der berühmtesten und wohlhabendsten Passagiere, Ida und Isidor Straus, beide in den 1840ern in der Pfalz geboren. Straus hatte es vom Sekretär zum Kaufhauskönig gebracht, entsprechend luxuriös war das Paar auf der „Titanic“ untergebracht. Der Überlieferung zufolge wollte der Millionär beim Untergang keinen Frauen und Kindern den Platz in den Rettungsbooten streitig machen und blieb stattdessen auf dem Schiff, zusammen mit seiner Frau. Als man Isidor Straus’ Körper später barg, trug er noch immer seinen pelzbesetzten Mantel und Schmuck.

Viele fälschten ihr wahres Alter

Von Passagieren wie ihnen, dem Parfüm-Unternehmer Adolphe Saalfeld oder der Diamantenhändler-Witwe Antoinette Flegenheim, existieren vergleichsweise viele Unterlagen und Fotos; ihre Geschichten kann Jens Ostrowski entsprechend umfangreicher schildern. Über den Stewart Ludwig Müller oder den Heizer Friedrich Kasper vermochte er nur wenig in Erfahrung zu bringen, es gibt nicht einmal Fotos von ihnen. Meistens ist der gesellschaftliche Status von Menschen entscheidend dafür, was von ihnen übrig bleibt, ob sie erinnert oder vergessen werden.

Interessant ist, wie viele Menschen damals wie Amalie Gieger ihr wahres Alter fälschten und sich jünger machten, auch Männer. Bewarb man sich um eine Arbeit, konnte das entscheidend sein. Manche allerdings logen nicht nur beim Geburtsdatum. Der verwöhnte Kaufmannssohn Alfred Nourney etwa war ein verkrachter Abiturient und wurde zu Verwandten nach Amerika geschickt, weil er mit dem zweiten Ehemann seiner Mutter nicht klarkam und eine junge Frau geschwängert hatte. Auf der „Titanic“ gab sich der Gernegroß als „Baron von Drachstedt“ aus; er hatte Ambitionen zu Höherem und Höheren. Franz Pulbaum schwindelte sich sogar ein ganz neues Leben für die USA zusammen. Jens Ostrowski fand heraus, dass kaum eine biografische Selbstauskunft des „Phantoms“ stimmt. Genutzt hat es Pulbaum nichts. Auch sein neues Leben endete beim Untergang, bevor es beginnen konnte.

Plastisch, lebendig, spannend erzählt

Doch „Die Titanic war ihr Schicksal“ – offenbar eine augenzwinkernde Anspielung auf den Bogart-Filmklassiker „Die Caine war ihr Schicksal“ – begnügt sich nicht mit den deutschen Biografien. Ostrowski rahmt „seine“ Figuren durch die große Geschichte der kurzen Jungfernfahrt. Noch einmal lässt er die Stimmung auf dem tragischen Schiffsriesen aufleben. Er schildert die Reise- und Arbeitsverhältnisse vom Oberdeck bis in den Maschinenraum und lässt Ausguck Frederick Fleet am 14. April um 23.40 Uhr sein „Eisberg voraus“ an die Brücke melden. Er erzählt, wie die Herren im Rauchsalon der ersten Klasse ein leichtes Rütteln vernehmen, die Besatzungsmitglieder im Bug tief unter der Wasserlinie einen furchtbaren Stoß, und dann die Menschen an Bord erleben, wie die „Titanic“ Fahrt verliert und die Katastrophe Fahrt aufnimmt. Sicher, all dies hat man zwar schon zahllose Male gelesen und gesehen. Aber Jens Ostrowski macht seine Autorensache wirklich gut, plastisch, lebendig, spannend, in aller Tragik.

Nicht lesen oder sehen konnte man bislang, was der Autor sonst noch ausgegraben hat. Etwa die Geschichte des Wiesbadener Unternehmens Rossel, Schwarz & Co., die den Gymnastikraum des Ozeanriesen mit Sportgeräten ausgestattet hat. Oder den Schwimmkran der Benrather Maschinenfabrik A. G., der beim Bau der „Titanic“ und deren Schwesterschiff „Olympic“ zum Einsatz kam. Und wer sich gerne mal ein Gläschen Apollinaris gönnt, wird nach der Lektüre wohl immer wieder daran denken, dass dieses Mineralwasser auch an Bord in der Nacht des Untergangs getrunken wurde.

Was aus Überlebenden wurde

Hochinteressant auch, was Jens Ostrowski über das Weiterleben jener Deutschen erzählt, die die Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 überlebt haben. Der falsche Baron Alfred Nourney kehrte noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Europa zurück, nahm an Autorennen teil, reiste um die Welt, wurde Pilot, spielte Tennis, überstand als Mitläufer mit Parteibuch die NS-Zeit und stieg nie dauerhaft in jene Kreise auf, in die es ihn immer noch zog. Immerhin stattete er jene Kreise mit Autos aus, als Mercedes-Verkäufer.

Amelia Gieger blieb noch über zehn Jahre in den Diensten ihrer wiederverheirateten Arbeitgeberin in den USA und starb unverheiratet im Jahr 1933. Elf Jahre zuvor hatte sie noch einmal ihre Schwester in Dresden besucht. Den Atlantik überquerte sie auf der „Olympic“, die ihrem Schwesterschiff „Titanic“ zum Verwechseln ähnlich war.

Jens Ostrowski: Die Titanic war ihr Schicksal – Die Geschichte der deutschen Passagiere und Besatzungsmitglieder. Eigenverlag, 160 S., 49,90 Euro