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Warum eine Mutter zur Mörderin ihrer Tochter wurde

Der französische Oscar-Kandidat „Saint Omer“ ist wuchtiges und verstörendes Extraklasse-Kino um einen realen Mordprozess.

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Die Autorin Rama (Kayije Kagame) und ihren Mann Adrien (Thomas de Pourquery) nimmt der Prozess gegen die Kindsmörderin sehr mit.
Die Autorin Rama (Kayije Kagame) und ihren Mann Adrien (Thomas de Pourquery) nimmt der Prozess gegen die Kindsmörderin sehr mit. © PR Filmpresskit

Von Andreas Körner

Heftiger hätten Tatsachen und Realitäten jede Form von Vermutung oder Interpretation nicht auskontern können: Im späten Herbst des Jahres 2013 wurde in Berck-sur-Mer an der französischen Küste ein junges Mädchen gefunden. Es war 15 Monate alt, schwarz und es war tot, ertrunken im Wasser des Ärmelkanals. Öffentliche Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten, schnelle Mutmaßungen zielten auf ein tragisches Unglück mit einem Flüchtlingsboot. Was bitte sonst?

Doch bald wurden andere Verdachtsmomente konkret, weil nahe des Fundorts ein Kinderwagen auftauchte, gefolgt vom Abdruck eines Fahndungsfotos in der Zeitung und der Verhaftung einer 36-jährigen Frau mit senegalesischen Wurzeln. Nach ihrem Geständnis drehte sich der kommentierende Wind vollends. Fabienne Kabou hatte ihre Tochter bei Ebbe in den Sand gelegt, wissend, dass die nahende Flut eine starke sein würde. Es war Mord.

Es sind schreckliche Zeiten des Schweigens

Regisseurin Alice Diop stammt selbst aus einer senegalesischen Familie. 1979 wurde sie in Frankreich geboren und arbeitete bislang als Dokumentarfilmerin. Beim Prozess gegen Fabienne Kabou saß Diop im Gerichtssaal, hörte Anklage, Plädoyers und die Worte der Täterin, weinte, wurde, wie sie sagt, von Emotionen durchgeschüttelt, entwickelte Obsessionen für diese Frau. Der Ort der Verhandlung wurde zum nüchternen Titel ihres Spielfilmdebüts: „Saint Omer“.

Die Erlebnisse ließen Alice Diop nicht los, und so wuchs aus ihrem großteils atemberaubenden und erschütternden Werk ein fiktionales Stück mit intensiver Sachlichkeit, allein aufgrund der originalgetreuen eidesstattlichen Aussagen. Bislang gab es dafür unter anderem den Grand Prix auf dem Filmfestival Venedig und eine Oscar-Einreichung für Frankreich.

Prozessbeobachterin mit besonderen Interessen

Das Prozedere ist bestenfalls Alltag: Die Vorsitzende Richterin lässt die Geschworenen auslosen, einer davon fällt bei der Staatsanwaltschaft durch und wird unspektakulär ersetzt, die Menschen nehmen auf zugewiesenen Stühlen Platz. Als Laurence Coly (Guslagie Malanda) in den Saal geführt wird, die bekennende Kindsmörderin, hebt sich die Geräuschkulisse nur leicht an.

Als Prozessbeobachterin ist auch Rama (Kayije Kagame) zugegen, eine erfolgreiche Autorin, die nicht nur aus Gründen beruflicher Neugier nach Saint Omer gekommen ist. Auch sie hat eine schwarzafrikanische Herkunft und wie Laurence Coly studiert, lebt unter weißen Franzosen, ist mit einem davon liiert und wird in fünf Monaten wissen, was es bedeutet, Mutter zu sein. Der Fall greift Rama persönlich an.

Das Leben vor der entsetzlichen Tat und danach

In 123 Minuten sind Szenen mit ihr, einer ernsten, Eindruck machenden Frau, die einzigen, die sich aus der Verhandlung „stehlen“. Man sieht Rama zunächst noch daheim, dann in ihrem Hotel, bei seltenen Kontakten. Als sich dann Ramas Blicke direkt mit denen von Laurence Coly treffen und es beide gegenseitig für lange Sekunden aushalten, entsteht eine filmkünstlerische Verbindung, die sich eingraviert. Bis dahin hat die Angeklagte schier ohne Regung in ruhigen, verstörend souveränen, geschliffenen Worten ihr Leben geschildert, vor der entsetzlichen Tat und danach.

Sie erzählte, wie sie nach Frankreich kam und warum, vom Studium und davon, als Philosophin „Spuren hinterlassen zu wollen“, von schrecklichen Zeiten des Schweigens in der Beziehung zu einem älteren Mann, der Geburt und dem Danach, von kulturellen Kollisionen und seltsamen Energien aus dem Senegal, wo die verbliebenen Tanten über Geister verstörende Energien senden würden und damit Laurence zu Handlungen gezwungen hätten.

Tragische Mutterschaft ohne wirkliche Chance

Fast vollständig verzichtet „Saint Omer“ auf all die erwartbaren Floskeln, Folklorismen, flüchtigen Wertungen und aufdringlichen Klischees. Was kein Wunder ist, denn auch der echte Prozess hatte in Ausmaß und Reflexion diese besondere Komplexität. Für den Kinozuschauer wird der „Effekt“ nun verdichtet. So sehr, dass man am Ende überhaupt nicht mehr darüber staunt, dass hier gar kein Urteil zu erfahren ist, dass man durch viele konsequent stehende Bilder den Figuren sehr nahe kommt, sich hin- und hergerissen fühlt und, wenn es ganz gut läuft, selbst aufzufangen hat. Nicht nur am Schluss.

Alice Diop gelingt grandios, was sie sich vorgenommen hatte. Sie wollte sich von der allgegenwärtigen Einseitigkeit in Wahrnehmung, Austausch und Dialog entfernen, indem sie „einem schwarzen Körper die Möglichkeit gibt, das Universelle zu sagen“. Weil sich auch die Regisseurin schon in vielen weißen Frauen wiedererkannt hätte, Madame Bovary zum Beispiel oder Anna Karenina, macht sie aus „Saint Omer“ eine im Kern wuchtige, eben aus Tatsachen und der Realität adaptierte Medea-Version. Denn, ja, es geht zunächst um Mutterschaft. Eine tragische.

„Saint Omer“ läuft in Dresden (Programmkino Ost und Zentralkino)