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Wie man die Menschen gegen Fake-News impft

Die Bekämpfung von Falschnachrichten muss viel schneller werden. Sonst hat die Korrektur keine Chance. Doch es gibt ein Gegenmittel. Ein Gastbeitrag.

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Fake-News platzen lassen, bevor sie in der Welt sind.
Fake-News platzen lassen, bevor sie in der Welt sind. © fStop

Von Bernhard Pörksen

Seit ein paar Jahren schon geht mir ein Bild nicht mehr aus dem Kopf, eine Metapher, die die Journalistin Ana Marie Cox mal erfunden hat, als sie noch in der Ära von Donald Trump und in einem Anfall von Resignation und Aufklärungspessimismus über die Faktenchecker der Washington Post nachdachte. Was tun diese armen, sich redlich abstrampelnden Faktenchecker eigentlich, so ihre Frage, wenn skrupellose Idioten fortwährend neuen Informationsmüll produzieren und die öffentliche Arena mit Unsinn fluten?

Wie effektiv sind sie, wenn die große Welle von Nonsens-News und Fake-Narrativen längst rollt, die Frames also längst geformt sind, bevor die Widerlegungsanstrengung überhaupt beginnt? Faktenchecking, so vermerkte eben jene Journalistin, sei ein bisschen so, als würde man in einem brennenden Haus sitzen. Um dann mit großer Hingabe den tropfenden Wasserhahn zu reparieren.

In diesem Bild, eben deshalb lässt es mich nicht los, wird der publizistische Startvorteil von Lügnerinnen und Lügnern unter den aktuellen Medien- und Kommunikationsbedingungen sichtbar. Hier zeigt sich die elementare Asymmetrie im Aufklärungsgeschäft der Gegenwart. Fakes verbreiten sich blitzschnell, Wahrheiten sind langsam. Und die Korrektur ist oft auch einfach deshalb chancenlos, weil sie zu spät kommt, viel zu spät.

Lügen sind schneller als die Wahrheit

Ein Beispiel, noch aus dem letzten Jahrhundert, das aber doch bis in unsere Gegenwart hinein wirkt: 1998 veröffentlicht der Mediziner Andrew Wakefield, bis heute die entscheidende Schlüsselfigur der Impfgegner, eine Studie im Magazin The Lancet. Seine Behauptung lautet, dass es – angeblich – einen Zusammenhang gebe zwischen dem Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Autismus bei Kleinkindern.

Das ist falsch. Und Wakefield ist bereits seit 2004 endgültig als Betrüger entlarvt, der eigene Finanzinteressen mit seiner Pseudoforschung verquickt hat. Erst 2010 wird die Studie jedoch von The Lancet offiziell zurückgezogen. Aber auch noch heute ist Wakefield als höchst erfolgreicher Angstunternehmer unterwegs, agitiert inzwischen im Netz gegen die Corona-Maßnahmen und empfiehlt Chlorbleiche zur Masernbekämpfung.

Lügen befreit, so zeigt sein Fall. Wer sich nicht mehr den Idealen von Wahrheit und Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlt und damit ökonomisch oder politisch Erfolg hat, der kann, emanzipiert von den Zwängen des Faktischen, in anderer Hemmungslosigkeit agitieren. Anything goes, so lautet das erste Gebot im Universum der Bullshit-Produzenten, die programmatische Selbstermächtigung zum endlosen Fabulieren.

Im Universum der Bullshit-Produzenten

Nur: Wie dagegenhalten? Die Antwort: Aufklärung muss schneller werden, viel schneller. Sie muss einsetzen, bevor sich Weltbilder endgültig verfestigt und sich Fake-Behauptungen global und auf sämtlichen Plattformen verbreitet haben. Also erneut: Was tun? Gegenwärtig wird im Feld der Desinformationsbekämpfung eine bereits ältere wissenschaftliche Theorie neu entdeckt und experimentell erprobt, dies mit ziemlich vielversprechenden Ergebnissen.

Die Rede ist von der sogenannten Inokulationstheorie, die der Sozialpsychologie der Sechzigerjahre entstammt. Inokulation heißt Impfung. Und der einigermaßen sperrige Name steht für die Annahme, dass man Menschen gegen Desinformation gleichsam impfen kann – und zwar auf zweifache Weise: zum einen durch die möglichst frühe, möglichst konkrete Warnung vor gerade erst aufkommenden Falschbehauptungen, zum anderen durch die Entlarvung der allgemeinen Manipulationstechniken.

Desinformationsimpfung, so zeigen aktuelle Studien, funktioniert tatsächlich ziemlich gut, beispielsweise auch durch Computerspiele, die auf leichte Weise die Techniken der Agitation unter den neuen Medienbedingungen verstehbar machen, für sie sensibilisieren. Man kann gerade heute, im aktuellen Informationskrieg und im Gewirr der umherwirbelnden Falschnachrichten, die aus dem Kreml kommen, wieder und wieder erleben, in welchem Maße diese Aufklärungs- und Entlarvungsarbeit in Hochgeschwindigkeit greift.

Mitunter täglich werden Ukrainerinnen und Ukrainer derzeit vor russischen Propaganda-Narrativen gewarnt. Plötzlich auftauchende, gerade erst publizierte Fälschungen werden blitzschnell dementiert, Lügen zum Beispiel durch Satellitenbilder und Geheimdienstinformationen offensiv korrigiert.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. © Peter-Andreas Hassiepen

Mal ganz konkret: Wenige Tage nach Kriegsbeginn wurde auf einer gehackten ukrainischen Nachrichtenwebsite ein sogenanntes Deep-Fake-Video publiziert. Angeblich erklärte Präsident Selenskyj hier die Kapitulation, aber die Fälschung vermochte nicht zu verfangen. Denn die Bevölkerung war schon darüber informiert, dass ein solches Video kommen könnte. Und Selenskyj reagierte sofort – und machte klar: Alles Fake!

Und auch hierzulande verfangen die Kreml-Behauptungen – man denke nur an die Bombardierung eines Geburtshauses in Mariupol und die Behauptung, es handele sich bei den blutenden, oft schwer verletzten Schwangeren um eine „Inszenierung“ – nicht wirklich. Nur ein paar versprengte Querdenker, die ihre Ideen ohne Realitätskontakt in den Katakomben von Telegram-Kanälen ventilieren, greifen dergleichen noch auf. Das ist ganz wesentlich ein Ergebnis der Demontagearbeit in Echtzeit.

Demogogen sind berechenbar

Aber die Idee, die sich in dem Konzept der Anti-Desinformations-Impfung verbirgt, reicht noch weiter. Denn eigentlich wird hier eine neuartige Form von Aufklärung sichtbar, die nicht mehr allein auf das sogenannte „debunking“ (also die nachträgliche Korrektur) setzt, sondern die ein vorausschauendes „prebunking“ betreibt (also auf die präventive Entlarvung der Falschinformation zielt). Wie soll das gehen? Darf ich mal einen Moment lang träumen? Demagogen und Ideologen haben eine offene Flanke, dies ist ihre Berechenbarkeit, die Dogmatik ihres Denkens.

Ideologie, so könnte man sagen, ist ein anderes Wort für einen leicht zu entziffernden Schematismus der Weltwahrnehmung, der sich prognostisch nutzen lässt. Man kann antizipieren, was rassistische Agitatoren über Einwanderer sagen werden („Invasion“). Man vermag in Kenntnis der Geschichte vorauszusagen, was fanatische Impfgegner behaupten werden; dies einfach weil sich die Vorwürfe – unabhängig vom Anlass und der konkreten Situation – in endloser Stereotypie wiederholen („tödliche Gefahr“, „geheime Geschäfte“, „Unfruchtbarkeit“).

Die Aufklärung der Zukunft

Und man kann ohne allzu große intellektuelle Unkosten recherchieren, dass die Industrie der Klimawandelleugner derzeit umstellt: weg vom schlichten Bestreiten der von Menschen verursachten Erderwärmung hin zur Blockade von Lösungswegen, die den eigenen Interessen widersprechen.

Man müsste also auf dem Weg zu einer tatsächlich präventiven Desinformationsbekämpfung, so die Idee, gerade erst entstehende Agitationsmuster sehr viel systematischer und eigentlich wie ein Futurist studieren. Man müsste neue Propagandawellen antizipieren, um dann deutlich schneller und entschiedener zu intervenieren.

Denn eins ist klar: Wenn es Ideologen erst einmal gelungen ist, die Welt mit ihren Ideen zu fluten und die sozialen Netzwerke mit ihren Deutungen zu dominieren, dann wird die Gegenwehr zur endlosen, hoffnungslos ermüdenden Sisyphus-Arbeit. Dann bleibt diese Aufklärungsarbeit unvermeidlich schwach und bloß reaktiv. Und dann fuhrwerkt man auch dann noch an einem tropfenden Wasserhahn herum, wenn das Gebäude längst in Flammen steht. Kurz und knapp: Die Aufklärung der Zukunft wird schneller sein – oder sie wird nicht sein.