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Zwillinge und Leistungssport - Wie das in Corona-Zeiten geht

Kugelstoß-Weltmeisterin Christina Schwanitz aus Dresden spricht über private Erfahrungen und Fehler im Sportsystem. Ein Klartext-Interview.

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Trotz Verletzungssorgen steht Christina Schwanitz vom LV Thum die Lebensfreude ins Gesicht geschrieben.
Trotz Verletzungssorgen steht Christina Schwanitz vom LV Thum die Lebensfreude ins Gesicht geschrieben. © Andreas Kretschel

Dresden. Diese Frau ist selbst im Sitzen eine Naturgewalt. Im Bistro des Chemnitzer Sportforums unterhält die gebürtige Dresdnerin Christina Schwanitz mit ihrem ansteckenden Lachen den gesamten Laden. Und die Weltmeisterin von 2015 im Kugelstoßen hat jede Menge zu erzählen, auf unnachahmliche Weise.

Ehrlich, humorvoll, kritisch und ohne Punkt und Komma spricht die 35-Jährige über ihr Leben als Zwillings-Mama in der Corona-Zeit und als Sportsoldatin, den Verzicht auf die deutsche Meisterschaft und ihren neuen Weg zu Olympia in Tokio.

Frau Schwanitz, Sie haben Ihren Start bei der deutschen Meisterschaft am Wochenende abgesagt. Ist Ihre Saison damit beendet?

Na ja, meine Saison hat ja nie angefangen. Der Bandscheibenvorfall hat sich vor circa neun Wochen gezeigt – und typisch Leistungssportler: Man geht ja nicht zum Arzt, wenn’s wehtut, sondern man hält es erst mal aus und versucht, das mit Physiotherapie zu behandeln. Ich bin auch eine kleine Kräuterhexe und versuche es auf dem Weg mit Dingen, die uns die Natur schenkt – bis ich meine Hand nicht mehr ansteuern konnte und meine Finger nichts mehr gemacht haben. Daraufhin bin ich zum Arzt. Diagnose: klassischer Bandscheibenvorfall, aber eben nicht im unteren Rückenbereich, sondern im Halsbereich, der vermutlich von der Haltung des Kopfes beim Ausstoß herrührt. Wenn man das 20 Jahre macht, ist der eine Wirbel sehr beansprucht, und bei uns wirken unheimliche Kräfte auf den Körper. Ich hatte auch bis vor gut zwei Wochen noch solche Schmerzen, dass ich gesagt habe, ich brauche so gar nicht an Leistungssport zu denken, aber ich bin auf dem Weg der Besserung.

Wie gestaltet sich jetzt das Training?

Ich mache dreimal in der Woche Rehasport, und ansonsten bekomme ich viel Physiotherapie. Dadurch bin ich tatsächlich fast schmerzfrei und freue mich inzwischen auf nächstes Jahr.

Ihre Motivation ist ungebrochen?

Ich würde eher sagen: Sie ist wieder da. Zwischendurch war es manchmal hart, wenn einem der Körper permanent wehtut, man schon nichts mehr macht und es trotzdem schmerzt. Das ist eine blöde Situation. Da kann man schon mal den Mut verlieren, auch ich. Corona hat natürlich auch uns als Familie, mir als Mutti, Frau und Sportlerin zugesetzt. Jetzt ist es aber so, dass ich wieder Bock habe und mich drauf freue.

Wie hat die Verschiebung der Olympischen Sommerspiele in Tokio auf 2021 Ihre persönlichen Pläne beeinflusst?

Total! Das hat mein ganzes Leben beeinflusst. Ich hatte mein Studium auf Eis gelegt, um mich vorzubereiten. Dementsprechend habe ich ein Semester vergeudet. Dann war natürlich der Plan: dieses Jahr Tokio, nächstes Jahr vielleicht noch aus Spaß und dann zick. Jetzt muss ich schauen, wie nächstes Jahr läuft.

Wie nutzen Sie die gewonnene Zeit?

Zunächst, um Kopf und Körper wieder in Einklang zu bringen. Bei Corona war für mich das große Problem wie für viele andere Haushalte auch, dass sich in erster Linie die Frau um die Kinderbetreuung gekümmert hat. So hat sich gezeigt, dass dieses klassische Klischee durchaus noch besteht. Neben unseren Kindern, die gerade die Welt entdecken, habe ich zum anderen abends noch mein Training gemacht. Ich habe sozusagen fast sechs Wochen lang versucht, zwei Jobs zu 100 Prozent auszufüllen. Und das hat mir im wahrsten Sinne des Wortes das Genick gebrochen.

Sind Sie so gesehen eine Gewinnerin der Verschiebung von Tokio?

Ich sag’ mal so: Wenn Tokio gewesen wäre, wäre ich auch hingefahren. Das wäre aber sicherlich nicht unter den besten Bedingungen passiert, weil sich das Training natürlich wesentlich schwieriger gestaltet hätte. Ich habe den Vorteil, dass ich auf viele Trainingsjahre zurückblicken kann und mein Körper viele Dinge abgespeichert hat.

Gab es für Sie persönlich etwas Positives, das Sie aus den vergangenen Monaten mitnehmen konnten?

Ich liebe meinen Mann immer noch (lacht laut). Schön ist, was unsere Kinder in der Zeit alles gelernt haben: Sie sind schnullerfrei, sie sind windelfrei, können schon fast Fahrradfahren, und der Kleine kann Kugelstoßen. Und besonders war zu sehen, wer in der Zeit zu mir gehalten hat, zum Beispiel die Bundeswehr, mein Verein, die Sporthilfe, der Olympiastützpunkt, die Ärzte, Physiotherapeuten und so weiter.

Ihre Erkenntnis in der Corona-Krise: „Wir sind nicht systemrelevant", sagt Christina Schwanitz.
Ihre Erkenntnis in der Corona-Krise: „Wir sind nicht systemrelevant", sagt Christina Schwanitz. © dpa/Olaf Kraak

Hat man als Sportlerin Anspruch auf Notfallbetreuung seiner Kinder?

Nein, als Leistungssportler hat man keinen Anspruch auf Notbetreuung. Wir sind nicht systemrelevant. Das ist das, wo sich die Katze in den Schwanz beißt, was in Deutschland nicht so funktioniert.

Welche Unterstützung hätten Sie sich gewünscht?

Wenn jemand von mir erwartet, dass ich meinen Beruf gut bis sehr gut ausübe, brauche ich einfach die Hilfe, um mein Privatleben gut oder sehr gut organisieren zu können. Und genau das hat nicht funktioniert. Das ist auch ein Grund, warum das System Leistungssport in Deutschland immer mehr kaputtgehen wird.

Braucht der deutsche Sport neben Laufbahnbetreuern auch so etwas wie Familienbetreuer?

Der deutsche Sport möchte keine Familien, weil man mit Familie einen Spagat hinbekommen muss. Man kann sich nicht mehr nur um sich und seine Belange kümmern: ausreichend Schlaf, Erholung und Regeneration. Familien kann man hinterher haben oder gar nicht, aber nicht solange man Sport macht. Der Leistungsgedanke steht da klar im Fokus.

Und nach dem Karriereende?

Ich muss mich entscheiden, was ich machen möchte und vor allem kann. Das ist echt schwer. Und unsere Familienplanung ist auch noch nicht ganz abgeschlossen. Was ich sehr schade finde: Wenn ich mit dem Sport fertig bin, fliege ich aus der Sportfördergruppe raus. Es wäre viel toller, wenn ein Sportler, der so lange Medaillen nach Hause bringt, dann von Deutschland die Chance bekommt, zum Beispiel von der Bundeswehr einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu bekommen.

Würden Sie das sofort unterschreiben?

Ja. Ich bin stolz auf mein Land, und ich bin auch gern Soldat. Und ich würde auch gern für die Bundeswehr arbeiten, aber ich will mich nicht noch mal von ganz unten nach oben hocharbeiten müssen. Dafür bin ich schon zu alt.

Welche Optionen stehen für Sie denn zur Auswahl?

Ich kann mich ganz normal bei der Bundeswehr bewerben, aber mit einem halben Jahr Auslandsaufenthalt. So lange unsere Kinder so klein sind, kann ich mir das nicht vorstellen. Zwei weitere Optionen wären, dass ich mein Studium zu Ende bringe und einen Kindergarten eröffne, der Sport und Knigge anbietet, oder ich gehe in meinen gelernten Beruf als Verwaltungswirt.

Warum ist Ihnen Knigge wichtig?

In vielen Familien müssen beide Elternteile arbeiten, damit sie sich ein Leben leisten können. Sie haben kaum Zeit, ihre Kinder zu erziehen. Also werden sie im Kindergarten oder in der Schule erzogen. Aber Schulen können das nicht leisten. Der Kindergarten hätte noch die Chance. Und wenn die Kinder in einen Kindergarten gehen, in dem „Bitte“, „Danke“ und „Auf Wiedersehen“ wichtig sind, können sie das in die Schule mitnehmen und den anderen zeigen. Wenn man einen höflichen Umgang miteinander pflegt, würde das Miteinander in der Gesellschaft besser funktionieren.

Seit 2015 desillusioniert in Sachen Doping: Christina Schwanitz vertraut den Kontrollen nicht mehr.
Seit 2015 desillusioniert in Sachen Doping: Christina Schwanitz vertraut den Kontrollen nicht mehr. © Andreas Kretschel

Sie posten auch kleine Details auf Ihrem Instagram-Profil. Welche Rolle spielt Social Media im Leistungssport?

Leider eine sehr große. Sich auf den Kanälen zu präsentieren, ist strukturiertes Marketing. Viele Hersteller sehen das als Selbstverständlichkeit an. Aus Sponsorverträgen ist das nicht mehr wegzudenken. Ich mag das nicht. Ich gehe gern in Fernsehshows oder gebe Interviews. Aber den Leuten zu sagen, was ich gerade esse, ist mir zu doof. Ich möchte die Zeit lieber mit meinen Kindern, der Familie oder meinen Freunden nutzen. Es gibt leider nicht nur gute Menschen auf dieser Welt, und das ist auch ein Grund, warum unsere Kinder nirgends mit Gesicht zu sehen und auch ihre Namen nicht veröffentlicht sind. Wenn unsere Kinder alt genug sind, können sie das selber entscheiden. Es geht nicht darum, dass ich nicht stolz auf unsere Kinder bin oder unsere Kinder nicht präsentieren möchte, sondern einfach um den Schutz der noch hilflosen kleinen Persönlichkeiten.

Deswegen bezeichnen Sie Ihre Kinder in Interviews als Krümel, Kleine oder Großer?

Richtig. Es geht nur um den Schutz. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.

Was war passiert?

An meiner alten Wohnung sind Leute vorbeigekommen und haben mir in Drohbriefen geschrieben, dass sie die Katzen vergiften oder die Reifen zerstechen wollen. Da waren die Krümel noch Quark im Schaufenster. Ich habe das bei der Polizei angezeigt und vor Kurzem die Mitteilung erhalten, dass die Ermittlungen eingestellt sind.

Was sind nun Ihre Meilensteine auf dem Weg nach Tokio 2021?

Soweit ich weiß, haben wir nächstes Jahr eine Hallen-EM und -WM. Das wäre ein Ziel. Aber nächstes Jahr wird es unfair zugehen, weil es Sportler gibt, die die Zeit ohne Dopingkontrollen genutzt haben.

Das klingt desillusioniert. Wann haben Sie das Vertrauen in die sportliche Fairness verloren?

2015, als ich im Jahr 57 Dopingkontrollen hatte und ganz Jamaika – also tatsächlich alle Athleten – insgesamt nur 150. Seitdem ist dieses Urvertrauen weg. Wenn ich zu einem Wettkampf fahre, kann ich zu 99-prozentiger Sicherheit sagen, wer getestet wird, nämlich ich oder eine andere Deutsche, weil sie wissen, dass wir sauber sind. Man muss halt einfach besser sein. Es gibt Sportler, für die lege ich meine Hand ins Feuer. Wenn ich der Meinung wäre, dass alle betrügen, würde ich keinen Leistungssport mehr betreiben. Aber da die Gerechtigkeit immer noch Überhand hat, mache ich meinen Sport gern.

Wie bewerten Sie mit diesem Wissen nachgereichte Medaillen?

Das Problem ist, es wertschätzt keiner. Weder finanziell, offiziell noch medial. Das steht dann in einer Randnotiz. Du kämpfst vier Jahre für eine Olympia-Teilnahme, und dann gibt’s irgendeinen Idioten, der bescheißt. Dann bekommst du acht Jahre später deine Medaille nachgereicht. Wen interessiert das dann noch?

Sie haben noch keine Olympia-Medaille gewonnen. Ist da eine Rechnung offen?

Rechnung ist das falsche Wort, aber ich habe noch einen riesengroßen Wunsch! Es soll meine vierte Teilnahme werden, und am allerbesten wäre eine Medaille.

Das Gespräch führten Stefanie Naumann und Alexander Hiller.