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Leidenschaftlicher Sänger wird 103

Herbert Nickgen ist inzwischen der älteste Mann in Görlitz. Er lebt noch allein, singt viel und trinkt gern.

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© Pawel Sosnowski/pawelsosnowski.c

Von Ingo Kramer

Görlitz. Herbert Nickgen sitzt an seinem Wohnzimmertisch und singt. Die uralte Volksweise „Es wollt ein Graf in seine Heimat reisen“ hat es ihm besonders angetan. Von der ersten bis zur letzten Zeile kennt er das Lied auswendig. „Das hat er schon gesungen, als meine Schwester und ich kleine Kinder waren“, sagt Tochter Anita. Es sei wohl früher viel auf Jahrmärkten angestimmt worden. Doch auch die Heimat- und Wanderlieder, die er in der Schule gelernt hat, hat er nie vergessen. „Was ihm im Kopf herumgeht, das singt er eben“, sagt die Tochter mit einem Schmunzeln.

Das Bild zeigt ihn als jungen Mann kurz vor dem Zweiten Weltkrieg.
Das Bild zeigt ihn als jungen Mann kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. © privat

Ihr Vater wird heute 103 – und ist damit der älteste Mann in Görlitz. Nur fünf Frauen sind etwas älter, aber meist nur wenige Monate. Die Älteste ist 104. Im Gegensatz zu den meisten von ihnen lebt Herbert Nickgen noch in seiner eigenen Wohnung in der Görlitzer Innenstadt. Es ist die Wohnung, in die er 1955 mit seiner Frau Anna und den beiden Töchtern eingezogen ist. Auch gesundheitlich klagt er nicht. Das Hören und Sehen hat zwar nachgelassen, aber an seinem Stock kann er zumindest noch in der Wohnung herumlaufen. Als Patient im Krankenhaus war er in seinem Leben erst einmal. „Vor vier Jahren hat er sich selbst eingewiesen“, sagt die Tochter. Allerdings konnten die Ärzte nichts finden – und entließen ihn schon bald wieder. Auch Apotheker haben an ihm noch nicht viel verdient: Er nimmt täglich nur eine Tablette, damit er abends schlafen kann – und zusätzlich ein paar Vitamine.

Was er deutlich mehr nimmt, ist sein geliebter Kräuterschnaps. Wenn er sie bekäme, würde er jeden Tag eine ganze Flasche leeren. „Aber wir geben ihm immer nur eine viertel Flasche“, sagt die Tochter verschmitzt. Ob der Alkohol ihren Vater so gut konserviert hat, kann sie nicht sagen. Vermutlich sind es auch die Gene: Seine beiden älteren Schwestern waren auch weit über 90 Jahre alt, als sie starben. Sport hingegen hat Herbert Nickgen nur in seiner Jugend gemacht – damals aber sehr ausgiebig. „Er war in jedem Sportverein, von Boxen bis Fußball und Eislaufen“, sagt die Tochter. Ansonsten hat er – abgesehen vom Schnaps – immer bescheiden und gesund gelebt. Das Rauchen gab er früh auf.

An die meisten Stationen seines langen Lebens kann er sich noch erinnern. „Ich wurde am 11. September 1915 im Katholischen Vereinshaus in der Emmerichstraße geboren“, berichtet er. Der Vater war im Gaswerk tätig, die Mutter Hausfrau. Schon bald zog die Familie ins Handwerk 5 in der Altstadt. Dort gab es eine Gaststätte. An den Inhaber erinnert sich Herbert Nickgen bis heute: „Das war der Seibt Martin, der hat mich gerne gehabt.“ Ganz in der Nähe machte er später seine Ausbildung zum Tischler bei Tischlermeister Ludwig.

Doch schon kurz darauf musste er zum Arbeitsdienst und schließlich in den Krieg, wo er als Panzerfahrer unter anderem beim Frankreich-Feldzug dabei war. Später geriet er in russische Kriegsgefangenschaft. Erst 1948 kehrte er aus Aserbaidschan zurück – und lebte ab 1949 wieder im Handwerk 5. Im gleichen Jahr lernte er seine Anna kennen, im April darauf war die Hochzeit, neun Monate später kam Tochter Anita zur Welt und 24 Monate darauf, im Januar 1953, Tochter Renate. Seine erste Arbeitsstelle nach dem Krieg mochte er überhaupt nicht: „Bei der Firma Apelt & Müller musste ich als Tischler Bienenbeuten bauen.“ Das machte er nur ein Jahr lang, dann wechselte er in den Waggonbau, zuerst in die Tischlerei und später in die Schmiede.

Viel Geld hatte die Familie nie, für ein Auto reichte es nicht. Stattdessen war ein Motorrad seine große Freude. Die RT 125 kaufte Herbert Nickgen Ende der 1960er. Zusammen mit seiner Frau war er damit viel unterwegs, solange er konnte – zum Angeln, Pilze und Blaubeeren sammeln. Erst mit Mitte 80 gab er das Motorradfahren auf und wurde zum Fußgänger. Zusammen mit seiner Frau blieb er aber aktiv. Sie starb nach 63 Ehejahren im Februar 2013 kurz vor ihrem 93. Geburtstag.

Heute wird Herbert Nickgen vom Pflegedienst „Flora“ und Tochter Anita betreut. Er schläft morgens lange und auch tagsüber viel. Sein täglicher Höhepunkt ist das Mittagessen: Er verträgt alles, nur weich genug muss es sein. Was seine Tochter besonders freut: Er ist immer zufrieden, klagt nie. So könne er weiterhin in seiner Wohnung leben. Heute feiert er den 103. Geburtstag mit seinen Töchtern im kleinen Kreis, am Wochenende kommt auch der Großteil seiner vier Enkel und acht Urenkel zur großen Feier zu ihm. Da er die Treppe nicht mehr bewältigt, finden alle Feiern in der Wohnung statt. Aber wenn die ganze Familie bei ihm ist, freut sich Herbert Nickgen besonders. Er will gern noch ein paar Jahre weiterleben und -singen. Seine Tochter glaubt, dass er 105 Jahre alt wird. Im Zweiten Weltkrieg habe er sich mal von einer alten Zigeunerin die Karten lesen lassen: „Sie hat gesagt, dass er sehr alt wird.“