Update Leipzig
Merken

So erlebte Leipzig den "Tag X": Eine Stadt im Belagerungszustand

Nach den Urteilen gegen die Linksextremistin Lina E. treffen Tausende Polizisten und Autonome in Leipzig aufeinander, Barrikaden brennen. Doch die befürchtete Eskalation der Gewalt bleibt aus.

Von Erik-Holm Langhof & Sven Heitkamp
 5 Min.
Teilen
Folgen
Samstagabend eskalierte die Lage in Connewitz erneut: Im Leipziger Stadtteil haben in der Nacht zu Sonntag mehrere Barrikaden gebrannt.
Samstagabend eskalierte die Lage in Connewitz erneut: Im Leipziger Stadtteil haben in der Nacht zu Sonntag mehrere Barrikaden gebrannt. © Hendrik Schmidt/dpa (Symbolfoto)

Leipzig. Am Sonntagmorgen nach dem befürchteten „Tag X“ hat sich die Szenerie in Leipzig-Connewitz komplett gedreht: Eine summende Kehrmaschine der Stadtreinigung hat das notorische Dröhnen des Polizeihubschraubers abgelöst, vor einem Bäcker frühstücken Menschen in der Sonne, aus einem Park tönt Countrymusik. Nur Ascheflecken im Asphalt, lose Pflastersteine im Bordstein und kaputte Scheiben am Polizeiposten erinnern an die aufgeregte Nacht zuvor.

Am Sonntagmorgen zog die Polizei eine erste Bilanz des Samstag. Der Einsatz sei demnach die ganze Nacht über fortgesetzt worden, es habe weiterhin brennende Barrikaden und Angriffe auf Beamte gegeben. Rund zwei Dutzend Polizeibeamte wurden am Samstag verletzt, zwei davon sind nicht mehr dienstfähig.

Die militante linksextreme Szene hatte für Sonnabend in Leipzig zum Sturm auf den Staat geblasen, um Lina E. und ihre drei Mitangeklagten zu rächen. Sie waren am Mittwoch vom Oberlandesgericht in Dresden wegen gewalttätiger Überfälle auf Rechtsextremisten zu insgesamt mehr als zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Dass Lina E. vorübergehend aus der Haft entlassen wurde, hat an dem Protestaufruf nichts geändert.

Die Stadt Leipzig hatte die „Tag X“-Demo zwar verboten und ihre Entscheidung hat am Samstag vor den Gerichten auch bestand. Dennoch belagern sich bis zum frühen Sonntagmorgen Tausende Polizeikräfte aus dem Bundesgebiet und Tausende Anhänger der linken Szene. Immer wieder gibt es Scharmützel und Handgemenge, fliegen Flaschen und Steine und sogar Brandsätze. In mehreren Straßen von Connewitz brennen Barrikaden und werden von Wasserwerfern der Polizei wieder gelöscht – wie schon am Freitagabend.

Eine Demonstration am Alexis-Schumann-Platz am Nachmittag in der Südvorstadt darf indessen wegen Verstößen gegen das Vermummungsverbot nicht laufen, die stationäre Kundgebung wird bis morgens um 5 Uhr eingekesselt. Doch die großen Straßenschlachten und Millionenschäden, die nach militanten Aufrufen zu befürchten waren, blieben aus.

Nur am Samstagabend kurz nach 18 Uhr droht die Lage am Alexis-Schumann-Platz für einen Augenblick aus dem Ruder zu laufen: Auf das szenetypische Signal von zwei Böllern hin stürmt der schwarze Block konzertiert los, greift im rückwärtigen Bereich des Platzes Polizeiwagen an, kommt aber nicht weit.

Eine Polizeikette und ein Wasserwerfer stehen ihnen im Weg. Der Block stürmt zurück, kommt aber auch an der nächsten Ecke nicht weiter. Flaschen fliegen auf eine Polizeikette, dann wird es wieder ruhiger. Der Platz mit mehr als 1.000 Menschen ist von Hunderten Polizisten, zehn Wasserwerfern und zwei Räumpanzern umzingelt, zeitweise rücken sie bedrohlich nah zusammen, räumen den Platz aber nicht.

Wieder Krawalle in Connewitz - die Nacht in Bildern:

In Leipzig-Connewitz haben am Samstagabend erneut Barrikaden aus Mülltonnen und Paletten gebrannt.
In Leipzig-Connewitz haben am Samstagabend erneut Barrikaden aus Mülltonnen und Paletten gebrannt. © SZ
Daneben wurden auch Böller und Pyrotechnik auf der Straße gezündet.
Daneben wurden auch Böller und Pyrotechnik auf der Straße gezündet. © Sebastian Willnow/dpa
Vermummte warfen immer wieder neues Holz ins Feuer. Polizei war vor Ort - und begann kurz vor 23.00 Uhr die Barrikaden mit Wasserwerfern zu löschen
Vermummte warfen immer wieder neues Holz ins Feuer. Polizei war vor Ort - und begann kurz vor 23.00 Uhr die Barrikaden mit Wasserwerfern zu löschen © Sebastian Willnow/dpa
Bereits am Samstagnachmittag hatte die Polizei mehrere Hundert Demonstranten eingekesselt. Die Maßnahmen dauerten bis zum frühen Morgen an.
Bereits am Samstagnachmittag hatte die Polizei mehrere Hundert Demonstranten eingekesselt. Die Maßnahmen dauerten bis zum frühen Morgen an. © Sebastian Willnow/dpa
üHerausgerissene Pflastersteine lagen überall in Connewitz herum
üHerausgerissene Pflastersteine lagen überall in Connewitz herum © Sebastian Willnow/dpa
Die Polizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz, löschte unter anderem auch die brennenden Barrikaden.
Die Polizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz, löschte unter anderem auch die brennenden Barrikaden. © Robert Michael/dpa
An der Wiedebachpassage wurde die Polizeiwache mit Steinen beworfen. Dabei wurden laut Polizei zwei Beamte verletzt, die das Objekt bewachten.
An der Wiedebachpassage wurde die Polizeiwache mit Steinen beworfen. Dabei wurden laut Polizei zwei Beamte verletzt, die das Objekt bewachten. © SZ
Nach der Demonstration in Leipzig-Connewitz hat ein Haftrichter bis zum Abend fünf Haftbefehle erlassen.
Nach der Demonstration in Leipzig-Connewitz hat ein Haftrichter bis zum Abend fünf Haftbefehle erlassen. © Sebastian Willnow/dpa

Stattdessen werden mehrere Hundert Autonome und andere Demonstranten auf einem Bürgersteig eingekesselt und zur Identitätsfeststellung eingeschlossen, einige im Laufe des Abends in Gefangenenwagen abtransportiert. Die Polizei spricht von rund 500 Personen, die „augenscheinlich dem gewaltbereiten Spektrum zuzuordnen waren“ – und sie lässt sich alle Zeit der Welt: Bis morgens um 5 Uhr werden mehr als 1.000 Personalien aufgenommen.

Am Sonntag berichtet Polizeipräsident René Demmler, es habe fast 30 Festnahmen gegeben, bei denen nun Haftantrag geprüft werde. Zudem seien bis zu 50 Personen in Gewahrsam genommen und bis Sonntagmittag wieder entlassen worden. Demmler spricht von „viel sinnloser, extremer Gewalt“. Deshalb sei es erforderlich gewesen, auch durch Stärke zu deeskalieren. Reihenweise Strafverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs und Angriffen auf Polizisten werden eingeleitet. Unter den Festgenommenen soll nach SZ-Informationen auch eine Person gewesen sein, die im Zuge des Lina E.-Verfahrens gesucht wurde.

Linke kritisiert Vorgehen der Polizei scharf

Etwa 50 Polizeibeamte seien bei den Einsätzen verletzt worden, drei von ihnen seien derzeit nicht mehr dienstfähig. Aber auch Demonstranten seien verletzt worden, räumt Demmler ein. Rund 20 Einsatzfahrzeuge wurden beschädigt, auch mehrere Autos im Stadtgebiet brannten. An einer Sparkassenfiliale in Stötteritz sei immenser Schaden entstanden.

Die Kundgebung in der Südvorstadt unter dem Motto „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ war von dem Leipziger Grünen-Politiker und Rechtsanwalt Jürgen Kasek angemeldet worden. Er kritisierte, wenn zigtausend Corona-Leugner, Querdenker und Rechtsextremisten in der Pandemie 2020 hätten um den Ring marschierten dürfen, nicht aber eine Demo für die Versammlungsfreiheit, werde „mit zweierlei Maß gemessen.“

Die Demo-Teilnehmer sollten dennoch weder provozieren noch sich provieren lassen. Als um kurz nach 18 Uhr die Lage außer Kontrolle gerät, erklärt Kasek die Kundgebung in Gesprächen mit der Polizei für beendet. Seitdem galt nicht mehr das liberale Versammlungsrecht, sondern strenges Polizeirecht. Linken-Politikerin Julian Nagle kritisierte zugleich das Verbot der weiteren Demonstrationen. Damit werde „die Arbeit von Antifaschisten kriminalisiert“.

Als am Samstagabend die Dunkelheit über Leipzig hereinbricht, verlagert sich das Geschehen einmal mehr nach Connewitz. Auf der Wolfgang-Heinze-Straße und der Bornaischen Straße werden Mülltonnen und Baustellenmaterial zu Barrikaden aufgeschichtet und angezündet, auch Böller und Bengalos fliegen durch die Nacht. Die Polizeiwache in der Biedermannstraße, dessen große Scheiben vernagelt sind, werden mit Steinen beworfen.

Einzelne Fenster gehen zu Bruch. Nebenan wird ein Baustellenwagen umgeworfen. Die Polizei rückt mit Wasserwerfern vor, löscht die Feuer und besetzt die Hauptstraßen mit einem Großaufgebot an Einsatzfahrzeugen und Hundertschaften. Einzelne Randalierer werden festgenommen. Der Einsatz, so berichtet die Polizei, sei die ganze Nacht über fortgesetzt worden.

Am Samstagnachmittag hatten Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Innenminister Armin Schuster (beide CDU) das Lagezentrum der Polizei besucht. Schuster wird nun mit dem Satz zitiert: „Wer reinschlägt, bekommt die Antwort.“
SPD-Innenpolitiker Albrecht Pallas kündigte mittlerweile an, den Minister damit im Innenausschuss zu konfrontierten. Die Äußerung habe, so Pallas, „nicht zur Beruhigung beigetragen.“