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Die Leipziger Buchmesse als Familienfest

Pop-up statt Großevent: Wie einige Enthusiasten die Leipziger Buchmesse gewissermaßen über Nacht retteten.

Von Karin Großmann
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Buchmesse Pop Up im Werk II. Die Verkaufsmesse mit Lesungsprogramm in der Kulturfabrik wurde nach der Absage der Leipziger Buchmesse spontan ins Leben gerufen.
Buchmesse Pop Up im Werk II. Die Verkaufsmesse mit Lesungsprogramm in der Kulturfabrik wurde nach der Absage der Leipziger Buchmesse spontan ins Leben gerufen. © dpa-Zentralbild

Wer sich gern mit anderen vor Büchern drängelt, ist an diesem Ort richtig. Ein Backsteinbau mit Industriecharme im Leipziger Stadtteil Connewitz. Wo sonst Bands spielen, stehen lange Tischreihen, weiß gedeckt wie für eine Familienfeier. Und das ist es auch. Man kennt sich, man mag sich, man tauscht den neuesten Klatsch aus, und nur der übliche Streit mit dem Schwiegervater entfällt. Denn auf wunderbare Weise ist sich diese Familie einig, einig in dem Satz: „Buchmessen gehören nicht abgesagt.“ Damit eröffnet der Berliner Verleger Gunnar Cynybulk das Fest. Neben ihm auf einem Stapel Europaletten steht Leif Greinus vom Dresdner Verlag Voland & Quist und sagt: „Das ist eine einmalige Aktion.“

Einmalig ist die „Buchmesse Pop up“ im Sinne von einzigartig, weil die zwei Ostdeutschen in kürzester Zeit Verbündete mobilisierten und ein hochkarätiges Programm aus dem Boden stampften mit Lesungen im Halbstundentakt und mit Platz für die Bücherstapel von 62 kleinen und mittleren Verlagen. Mehr als doppelt so viele wollten von Freitag bis Sonntag dabei sein. Ein Zwei-Meter-Tisch kostet 500 Euro Standmiete. Einmalig ist die Aktion aber auch, weil sie sich nicht wiederholen soll. „Es möge niemand auf die Idee kommen, dass es auch so gehe!“, warnt Helmut Stadeler, Chef des Börsenvereins der Region. Denn natürlich kann die Familienfeier das Original mit rund 2.500 Ausstellern aus zig Ländern nicht ersetzen. Sie bekräftigt vielmehr die Notwendigkeit, dass eine Leipziger Buchmesse stattfinden muss.

„Wir wollen sie unbedingt“, sagt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer mit energischer Stimme. Er will „Zusagen von den Verlagen einfordern“. Gemeint sind die großen Player, die mit ihrer Absage einen Verrat an der Literatur begingen, wie es der Österreicher Karl-Markus Gauß in seiner Dankrede für den Preis zur Europäischen Verständigung formulierte: „Wer die Sache aller verrät, um die eigene Macht – oder Marktposition – zu stärken, der mag sich für kurz als Sieger fühlen, er wird aber, indem er andere ruiniert, auch sich selbst schweren Schaden zufügen, wie wir es gerade jetzt an einem ungleich entsetzlicheren Fall als dem ersehen, der die Absage der Leipziger Buchmesse darstellt.“

Dass der Börsenverein als Branchenverband weniger scharfe Worte findet, verwundert nicht. Er lebt ganz erheblich von den Mitgliedsbeiträgen der Konzernverlage. Ende März soll ein Krisengespräch mit ihnen, mit Landesregierung, Messeleitung und Börsenverein am Tisch von Kulturstaatsministerin Claudia Roth stattfinden. Der Verleger Leif Greinus ist nicht eingeladen. Er hat mit seinen Mitstreitern ein Signal gesendet: Mit Enthusiasmus geht viel. Es geht auch ein Hygienekonzept. Alle zwei Stunden bittet der Dresdner Entertainer Frank Töpfer im feinen lila Krawattenanzug die Besucher der Kulturfabrik freundlich zum Ausgang. Dann dürfen die nächsten 300 herein.

Wo die wilden Äpfel wachsen

Andere hören nebenan in den Cammerspielen zu, einer kleinen Theaterhöhle. Alexander Osang liest seine Reportage über den japanischen Friseurmeister, der nach der Reaktorkatastrophe als Flüchtling in Berlin begrüßt wurde und so gar nicht dem erwarteten Bild entsprach. Der Künstler Max Eulitz erzählt von seiner Recherche im angesagtesten Kiewer Technoclub vor zwei Jahren, „ich weiß gar nicht, ob er noch existiert“. Und Ursula Krechel, Grande Dame der deutschen Literatur, führt mit ihrem Text in die Berge von Kasachstan, wo die wilden Vorfahren der europäischen Äpfel wachsen.

Da läuft schon der Countdown für den nächsten Besucherwechsel. Schnell wird noch ein Lyrikband bei der Connewitzer Verlagsbuchhandlung gekauft oder ein Kinderkunststück bei Henschel. Weil Buchhandelsketten die kleineren Verlage oft gar nicht erst durch die Tür lassen, lohnt sich das Stöbern hier. Wo sonst finden sich zum Beispiel Anthologien über Czernowitz, Charkiv, Odessa? „Buch für Buch, nicht Krieg um Krieg, nur so kann Europa erlesen werden“ ist das Credo des Wieser Verlags. Der Droschl Verlag aus Graz hat schnell noch ein Plakat aufgehängt für den Roman „Eine runde Sache“. Der israelische Autor Tomer Gardi wurde am Donnerstag mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet – in einer grotesken Veranstaltung. Gespenstische Stille herrscht in dem Glaspalast, der sonst vom Lärm Hunderttausender Messegäste erfüllt ist. Die verstaubten Bäume sehen noch trauriger aus als ohnehin. Einsam hallen die Schritte. Ein Werbeplakat wirbt für nichts. Das Ganze wirkte wie die Simulation einer Preisverleihung, eingeleitet von einem launigen Klingklang und absurd mit dem Wissen, dass eine Halle weiter Flüchtlinge aus der Ukraine campieren.

Der Krieg ist immer anwesend. Sein Schatten liegt über allem. Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die als Kinder aus Kiew, Baku, Tiflis oder Moskau ausreisten und ihre Geschichten längst in einem zauberhaften Deutsch schreiben, sehen sich plötzlich reduziert auf ihre Herkunft. Sie werden auch in Leipzig wie Militärexperten befragt. „Ich bin kein Fachmann für Waffen“, sagt der Autor Dmitrij Kapitelman, „ich empfinde nur unvorstellbare Ohnmacht.“ Er beschreibt sich als dauerschockiert und dauerverstört. Seine Kindheitsstadt, die er im Buch „Eine Formalie in Kiew“ liebevoll-ironisch beschreibt, wird es so nicht mehr geben. Wie aus einer anderen Zeit klingt die Szene vom Erzählervater, der für traditionellen ukrainischen Würzspeck schwärmt.

Waren wir zu friedensverwöhnt?

Diese Lesung in der Deutschen Nationalbibliothek ist ebenso gut besucht wie der Suhrkamp-Abend in der Leipziger Stadtbibliothek. „Heute sind viele unserer Autoren bedroht, die mit ihren Büchern genau das verhindern wollten, was in der Ukraine passiert“, sagt Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe. Er zitiert einen Satz von Juri Gagarin aus einem Theaterstück von Heiner Müller: „Dunkel, Genossen, ist der Weltraum, sehr dunkel.“ Vielleicht haben wir nicht aufmerksam genug gelesen, meint Karin Schmidt-Friderichs, Chefin des Branchenverbands. „Waren wir zu friedensverwöhnt, zu lethargisch, zu blind?“ Auf einem Podium am Sonnabend diskutiert sie über den Krieg in der Ukraine. Bei allen Meinungsverschiedenheiten einigt sich die Runde auf eines: Der Boykott alles Russischen ist fatal. „Es ist geradezu zynisch, wenn russische Künstler, die gegen das Regime arbeiteten und ihr Leben riskierten, jetzt nicht mehr zu Festivals eingeladen werden“, sagt Katerina Poladjan. Sie plädiert für Differenzierung. Die Schriftstellerin liest am Dienstag in Dresden in der Zentralbibliothek.

Wie viel mehr solche Diskussionen hätte es auf einer Leipziger Buchmesse geben können! Gerade weil sie seit Jahren den Fokus auf osteuropäische Länder richtet, fehlt sie gerade jetzt. Aber zumindest gab die Buchmesse ihre Internetseite frei für die zahllosen Veranstaltungen, die sich neben dem Connewitzer Familientreffen fast über Nacht entwickelten unter dem Motto: „Weiterlesen22“. Sogar der Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah kam zu einem Abstecher vom Literaturfestival in Köln herbei. Das wurde ja nicht abgesagt.

Großes Gedränge an langen weißen Tischen. Unter den noch immer geltenden Corona-Bedingungen können bis zum Sonntagabend rund 10 000 Gäste das Buchmesse Pop Up inklusive der Lesungen besuchen.
Großes Gedränge an langen weißen Tischen. Unter den noch immer geltenden Corona-Bedingungen können bis zum Sonntagabend rund 10 000 Gäste das Buchmesse Pop Up inklusive der Lesungen besuchen. © dpa-Zentralbild